FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Streichung der Bindungsangebote
für bindungsgestörte Kinder

Vernichtung der heilpädagogischen Pflegestellen in Berlin

 

Von Dipl. Soz. Päd. Katja Paternoga

 

Die Berliner Senatsverwaltung für Jugend hat zum 1. Juli 2004 neue Ausführungsvorschriften für das Pflegekinderwesen (AV Pflege) in Kraft gesetzt.
Eine wesentliche Veränderung ist die Abschaffung der heilpädagogischen Pflegestelle.

Das Modell der heilpädagogischen Pflegestelle ist ein vielgerühmtes und erfolgreiches. Annähernd die Hälfte aller Pflegekinder sind solche, die körperlich, seelisch oder geistig behindert  sind. Diese Anzahl zeigt, dass es gelungen ist, eine hohe Anzahl fremdunterzubringender behinderter Kinder in Familien statt in Heimen unterzubringen.

Viele  dieser Behinderungen sind aufgrund von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch in den Herkunftsfamilien entstanden. Oft handelt es sich um Mehrfachbehinderungen wie etwa die Kombination aus Alkoholembryopathie (FAS), früher Bindungsstörung, geistiger Retardierung und evt. körperlichen Folgen der Alkoholschädigung. Bindungsstörungen bringen die meisten der heilpädagogischen Pflegekinder mit. Für diese Kinder ist es von besonderer Bedeutung, dass sie die Chance erhalten, Beziehungsfähigkeit zu entwickeln, eine liebevolle Bindung einzugehen und damit dem Prozess der Heilung eine unentbehrliche Grundlage zu geben.

Diese Chance kann einem Kind auch in einem guten Heim wegen der Dominanz der Gruppenpädagogik, wegen der Anzahl und Fluktuation der Bezugspersonen, wegen des Schichtwechsels etc. nicht geboten werden. Auch die Pflegestelle ist vor Abbrüchen nicht gefeit. Doch ist eine Dauerpflege grundsätzlich darauf ausgelegt, dass dem Kind ein verbindliches Beziehungsangebot gemacht werden kann. Ein Pflegeverhältnis  ist auch rechtlich wesentlich besser geschützt.

Das Modell der heilpädagogischen Pflegestelle bot traumatisierten behinderten Kindern die Möglichkeit, in einer Familie zu leben. Erzieher, Sozialpädagogen, Psychologen u. a. qualifizierte Fachleute erklärten sich bereit, solche Kinder in ihre Familien, ihre Partnerschaft, ihr Leben aufzunehmen, mit ihm und seiner schwierigen Geschichte, seiner in alle Lebensbereiche dringenden Symptomatik zu leben. Was dies bedeutet, ist in wenigen Worten nicht beschreibbar. Dass ein seelisch tiefgreifend verletztes oder  pflegebedürftiges Kind viel Zeit, Kraft und Liebe  benötigt, ist jedoch leicht nachvollziehbar. Dafür mussten die heilpädagogischen Pflegeeltern ihr Leben gänzlich umstellen, z.B. Aufgabe des Berufs, Wechsel in eine größere Wohnung, Verzicht auf die gewohnte Freizeitkultur und auf die eingeübten Rollenverteilungen. Die meisten (ca. 90 %) wurden vor Aufnahme eines heilpädagogischen Pflegekindes vom Jugendamt zur Aufgabe des Berufes aufgefordert.

Alle Pflegestellen erhalten fortan gleiches Erziehungsgeld. Ein erhöhtes Erziehungsgeld für  besonderen Aufwand soll es weiterhin geben. Wird dem Kind vom jugendamtlich bestimmten Gutachter der sog. "erweiterte Förderbedarf" zuerkannt, erhält seine Pflegeperson das erhöhte Erziehungsgeld. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass auch diese Hilfe bedarfsorientiert gewährt werden müsse und somit in regelmäßigen Abständen durch Begutachtung überprüft werden soll. Und hier liegt die Falle: Eine Förderung, die die intensive Bereitstellung der Pflegeperson ermöglichen soll, wird nur zeitlich befristet gewährt (durchschnittlich ein Jahr). Wenn sich das Kind (vorübergehend) gut entwickelt, entfällt die Förderung. Nebenbei bedeutet die regelmäßige Begutachtung der gesamten (!) Familie eine psychische Belastung und Stigmatisierung. Man stelle sich eine Familie mit drei Pflegekindern vor, die durchschnittlich alle vier Monate begutachtet werden muss.

Auf dieser Grundlage wird es jedoch heutzutage niemandem möglich sein, seine Berufstätigkeit aufzugeben und sein Leben umzustellen, um ein behindertes Kind aufzunehmen.

Ein weitere sehr betrübliche Veränderung ist, dass Kinder, die körperlich und/oder geistig behindert und pflegebedürftig sind, den erweiterten Förderbedarf nicht erhalten. Ein körperlich pflegebedürftiges Kind erhält die Förderung nur, wenn es zusätzlich erzieherisch sehr schwierig ist.

Somit ist eine leicht vorhersehbare Auswirkung der AV Pflege die verstärkte Unterbringung von traumatisierten behinderten Kindern in heilpädagogischen Heimen und Erziehungsstellen, was weder kindeswohlgerecht noch kostensparend ist. Schon jetzt zeigt sich, dass es den Bezirken an Kurzpflegestellen fehlt, da diese durch die Neuregelungen kaum noch vorhanden sind. Was bleibt da anderes als die Unterbringung im Heim? Evtl. über den retraumatisierenden Umweg über die Herkunftsfamilie.

Gegen den Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben wurde es versäumt, die Verantwortung für  bereits bestehende heilpädagogische Pflegeverhältnisse zu übernehmen. Stattdessen gibt es nur eine beliebig auslegbare Härtefallregelung als Kann-Bestimmung. Pflegeeltern, die ihr Leben auf die Kinder ausgerichtet haben und somit finanziell von ihrer heilpädagogischen Arbeit abhängig sind, werden durch den Wegfall der Planungssicherheit gezwungen, sich umzuorientieren. Dies ist in der Regel mit sehr großen Schwierigkeiten verbunden, da Pflegeeltern lange aus dem Beruf heraus sind, behinderte Kinder Zuhause haben, zu alt sind etc..

Für alle behinderten Pflegekinder gilt, dass sie wohl von nun an wieder unter einer defizitorientierten Sichtweise leiden müssen. So wurde schon einigen Kindern von besorgten  Sozialarbeiterinnen geraten, sie sollten dem Gutachter erzählen, was sie alles nicht können.

Katja Paternoga ist Vorsitzende des Aktivverbund Berlin Pflegeeltern für Pflegekinder (http://www.aktivverbund-berlin.de)

Der Artikel wurde veröffentlicht in der Zeitschrift PFAD, Heft 4-2004 (http://www.schulz-kirchner.de/pflegefamilie/zeitschrift.htm)

 

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