FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Umsetzung der Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls

 

Im vergangenen Jahr berief Stadtverbandspräsident Michael Burkert die Kommission Kinderschutz und Kinderzukunft. Sie setzte sich unter dem Vorsitz von Thomas Mörsberger, Vorsitzender des Deutschen Institutes für Jugendhilfe und Familienrecht und Leiter des Landesjugendamtes Baden, aus mehreren hochkarätigen unabhängigen Experten zusammen. Die Kommission hat nun ihren Abschlussbericht vorgelegt. Wir veröffentlichen hier die Schlussfolgerungen.
(C.M., April 2004)

 

Schlussfolgerungen

Die Kommission hat sich nach eingehender Beratung entschlossen, folgende Schlussfolgerungen zu formulieren. Darin bündelt sie die wesentlichen gemeinsamen Ergebnisse ihrer Arbeit und beschreibt die sich aus ihrer Sicht daraus ergebenden Konsequenzen für die Praxis:

1. Staat und Gesellschaft müssen mehr als bislang dafür tun, um die Misshandlung von Kindern zu verhindern. Das ist nicht nur eine Frage einzelner öffentlicher Institutionen, sondern eine Aufforderung an alle, die in dieser Hinsicht Einfluss nehmen können.

2. Kindesschutz ist nach den Vorgaben des Grundgesetzes zunächst Aufgabe der Eltern im Rahmen ihrer (vorrangigen) Elternverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Im staatlichen Wächteramt manifestiert sich aber eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des Kindes, auch wenn sie gegenüber der elterlichen Erziehungsverantwortung nachrangig gilt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG).

3. Die staatliche Schutzpflicht erstreckt sich nicht nur auf die Gestaltung der gesetzlichen Grundlagen, sondern vor allem auch auf deren wirksamen Vollzug durch Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Hinsichtlich ihrer Ausgestaltung hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Er muss allerdings das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten. Daraus folgt die Notwendigkeit, Normen und Vollzug den sich ändernden Lebenssachverhalten und wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen. Zudem müssen zwischen den mit Kindesschutz befassten Institutionen Kooperationsformen gesichert sein bzw. entwickelt werden, die eine sachgerechte Wahrnehmung der Schutzaufgaben gewährleisten.

4. Im Vordergrund der Überlegungen müssen die potenziell von Misshandlung betroffenen Kinder und Jugendlichen stehen. In aller Regel beruht Kindeswohlgefährdung auf komplexen Problemlagen in den jeweiligen Familien. Was jeweils die erforderliche bzw. wünschenswerte Hilfe ist, kann deshalb nur für den Einzelfall beurteilt und entschieden werden. Sie besteht in den meisten Fällen darin, dass den vorrangig Verantwortlichen, also in der Regel den Eltern, Beratung und Unterstützung angeboten wird. Oft sind aber auch Interventionen erforderlich, ggf. verbunden mit Eingriffen durch die Familiengerichtsbarkeit in das (vorrangige) Elternrecht (siehe §§ 1666 bzw. 1666 a BGB, Anrufung durch das Jugendamt gem. § 50 Abs. 3 SGB VIII). Hierbei ist stets zu beachten, dass der (aktuelle, aber auch ein später vielleicht notwendiger) Zugang der Betroffenen zu Hilfeangeboten nicht erschwert wird (vgl. u. a. § 64 Abs. 2 SGB VIII).

5. Das Personal derjenigen Stellen, die mit Kindesmisshandlung befasst werden, muss fachlich entsprechend qualifiziert sein. Das System der Hilfen ebenso wie das anderer dem Kindesschutz verpflichteter Stellen bedarf darüber hinaus einer angemessenen, dem Bedarf entsprechenden quantitativen personellen Ausstattung. Verfassungsrechtliche Garantien können nicht "nach Maßgabe des Haushalts" relativiert werden. Bei der gegenwärtigen Personalausstattung der Jugendämter bestehen zudem beträchtliche regionale Unterschiede, das nicht nur mit den unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten erklärt werden kann. Im Interesse eines effektiven Kindesschutzes, insbesondere zur Wahrung des Untermaßverbots, wären Empfehlungen der Spitzenverbände über die Personalausstattung hilfreich.

6. Damit Eltern und Kinder in Krisensituationen jederzeit Zugang zum Hilfesystem haben, bedarf es nicht nur adressatengerechter Informationen über das Hilfespektrum, sondern auch technischer und personeller Vorkehrungen, die die Erreichbarkeit der Einrichtungen und Dienste zu jeder Tages- und Nachtzeit sicherstellen.

7. Hilfeansätze sind dann Erfolg versprechend und nachhaltig, wenn sie sich nicht nur an den festgestellten Defiziten in der Abwehr von Gewaltverhältnissen orientieren, sondern auch und insbesondere an den konkreten Ressourcen, soweit sie erkennbar werden. Allerdings bedarf es dabei jeweils einer (in Abständen immer neu vorzunehmenden) Risikoanalyse und -abwägung, also einer Einschätzung, inwieweit im Einzelfall physische und psychische Belastungen für ein Kind (auf Dauer) zumutbar bzw. verantwortbar sind bzw. ob eine Herausnahme des Kindes (oder die Wegweisung eines Gewalttätigen aus seiner Wohnung) mit den spezifischen psychischen Risiken dem Verbleib im familiären Umfeld vorzuziehen ist.

8. Zur Sicherung der fachlichen Qualität empfiehlt es sich, in den zuständigen Stellen fachliche Standards zum Verfahren wie zu den Beurteilungskriterien zu formulieren und sich über verbindliche Kriterien zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung zu verständigen, die von allen professionell Beteiligten akzeptiert werden. Hierzu gehören verbindliche Standards der Zusammenarbeit bezüglich der zu schaffenden Gremien, der beteiligten Professionen, der Arbeitsziele und der Arbeitsaufgaben, um so eine kooperative, im Dialog zwischen den Beteiligten entstehende Qualitätsentwicklung zu ermöglichen. Dazu gehört allerdings die Bereitschaft aller Beteiligten, sich auf einen solchen Prozess vorurteilsfrei, aufrichtig, kritikfähig, offen und lernbereit einzulassen; dies umfasst auch die Initiierung qualitätssichernder Maßnahmen im Jugendamt durch externe Institutionen oder Kommissionen.

9. Statt formalistischer Vorgaben, die den individuellen Erfordernissen des Einzelfalls nicht gerecht werden, sollte durch organisatorische Vorgaben gewährleistet sein, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Fällen von Kindeswohlgefährdung nach professionellen Maßstäben handlungsfähig sind. Notwendige allgemeine Vorgaben sollten regelmäßig auf ihre Funktionsfähigkeit hin überprüft werden, Anleitung und kritische Begleitung müssen gewährleistet sein, die Ressourcen des Kooperationsfelds (interdisziplinärer fachlicher Austausch) genutzt werden. Das macht die Hilfen wirksamer, aber dient auch der Wirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes.

10. Die Zusammenarbeit von Pflegefamilien mit dem Jugendamt sowie deren Kontrolle folgt nach der Konzeption des Kinder- und Jugendhilferechts einem partnerschaftlichen Grundgedanken. Sie trägt damit dem grundrechtlichen Schutz der Pflegefamilie aus Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung. Bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie gelten für die Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich die gleichen Handlungsanforderungen für die Risikoabschätzung wie für bei Eltern lebende Kinder und Jugendliche.

11. Der Beteiligung der Kinder und Jugendlichen, die bei Pflegeeltern leben, also dem persönlichen Kontakt mit der zuständigen Fachkraft kommt im Rahmen der Begleitung der Pflegeverhältnisse durch die Kinder- und Jugendhilfe eine besondere Bedeutung zu. Diese darf bei der erstrebenswert engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern nicht aus dem Auge verloren werden. Auch der Einbezug der Herkunftseltern und die Frage nach einer Förderung des Kontakts mit ihren fremduntergebrachten Kindern ist als wesentlicher Bestandteil im Hilfeprozess zu berücksichtigen.

12. Zur Beseitigung besonderer Gefährdungsfaktoren bzw. zur Entlastung traumatisierter Kinder sollten die zuständigen Institutionen eng zusammenarbeiten, sich dabei aber in der Unterschiedlichkeit ihrer Aufgaben und Befugnisse gegenseitig respektieren. Die Unterschiedlichkeit kann eher als Chance denn als Nachteil gesehen werden.

13. So ist es Sache der Polizei, mit allen ihr zulässigen und praktisch möglichen Mitteln Gewalttäter dingfest zu machen bzw. bei akuter Bedrohung die aktuell erforderlichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen (Ermittlungsverfahren mit Beweissicherung, Herausnahme des Kindes bei akuter Gefahr, Wegweisung bzw. Platzverweis zu Lasten der gewalttätigen Person, Inobhutnahme des Kindes durch das Jugendamt, Einschaltung der Staatsanwaltschaft). Demgegenüber sollte die Jugendhilfe konsequent darum besorgt sein, den Zugang zu (möglicherweise) betroffenen Kindern und ihren Familien aufzubauen und zu sichern, um die Ressourcen der vorrangig Verpflichteten - soweit vorhanden - zu nutzen bzw.. herauszufordern. Ähnliche Funktionen übernehmen in vielfältiger Weise Träger der freien Jugendhilfe. Das ändert nichts daran, dass es immer wieder Fälle gibt, bei denen das Wohl des Kindes oder Jugendlichen nur durch Eingriffe (des Familiengerichts) in die Rechte der Eltern oder in besonders gravierenden Fällen auch durch Einschaltung der Polizei gesichert werden kann.

14. Kooperation zwischen Jugendhilfe und Polizei ist besonders erfolgreich, wenn sie von gegenseitigem Respekt getragen wird, die gesetzlichen Rahmenbedingungen von beiden Seiten als fachlich notwendig akzeptiert werden und ein Miteinander gefunden wird, das dem Rechnung trägt Es kann und darf niemand von einem Kooperationspartner erwarten, dass er gegen seine gesetzlichen Vorgaben verstößt, wie z. B. das Legalitätsprinzip der Polizei oder den Vertrauensschutz der Jugendhilfe. Eine Verletzung dieser Grundsätze wäre ein Zeichen von fehlender Professionalität.

15. Die Möglichkeiten der Familiengerichtsbarkeit, der insbesondere in Extremfällen die Rolle zukommt, die ggf. erforderlichen Eingriffsmaßnahmen anzuordnen bzw. Auflagen zu erteilen, sind eng begrenzt. Die Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern und Familiengerichten sollte jedoch nicht darauf beschränkt sein, sich in extremen Fällen die "Genehmigung" für ein hartes Eingreifen zu holen. Stattdessen sollten die Familienrichter ihre Entscheidungsspielräume verstärkt zu abgestuften Eingriffs-Entscheidungen nutzen und damit ein besseres Zusammenspiel der verschiedenen Systeme fördern. Jugendamt und Familiengericht bilden eine Verantwortungsgemeinschaft zum Schutz des Kindes.

16. Die Kooperation des Jugendamts mit Trägem der freien Jugendhilfe muss ebenfalls fallgerecht gestaltet werden. Werden für bestimmte Fallkonstellationen Mitteilungspflichten vereinbart, so darf diese Pflicht nicht so ausgestaltet sein, dass die konkrete Arbeit behindert würde.

17. Die Beziehungen zwischen dem Jugendamt und den Helfer/innen unterschiedlicher Professionen sind von der Verschiedenheit der Institutionen ebenso geprägt wie von wirtschaftlicher Abhängigkeit und unterschiedlichsten Interventionsmöglichkeiten und -formen im konkreten Einzelfall. Für die Kooperation der beteiligten Institutionen bedarf es daher einer klaren transparenten Struktur, da sich hier Partner mit Unterschieden in Bezug auf Struktur, Selbstverständnis, Aufgabenstellung, Verfahrenweisen und Professionen begegnen.

18. Die Kommission empfiehlt, dass die Kooperationen und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen und Verabredungen der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Dieses sollte unabhängig von konkreten Fällen, misslungenen Hilfen (die es immer geben wird) oder Skandalen geschehen, um so der Jugendhilfe mit allen ihren Beteiligten die Chance für eine sachliche, verantwortbare öffentliche Diskussion über Chancen und Grenzen von Hilfemaßnahmen zu ermöglichen.

19. Für ältere Kinder kommt auch der Schule in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu, hat sie doch - als eigenständige Erziehungsinstanz - in der Regel direktere Einwirkungsmöglichkeiten auf die Bettoffenen als das "ferne" Jugendamt. Lehrer/innen in der Schule haben daher oftmals weit bessere Informationen über die Wünsche, Bedürfnisse und Probleme ihrer Schüler/innen, die es ihnen ermöglichen, Hilfen für gefährdete Kinder und Jugendliche zu initiieren. Dazu bedarf es eines regelmäßigen Austauschs und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Fachkräften im Jugendamt und bei Trägern der freien Jugendhilfe.

20. Die Aufgaben des Jugendamts als Sozialleistungsträger sind im Interesse eines effektiven Kindesschutzes von den Aufgaben des Jugendamtes zur Wahrnehmung der elterlichen Sorge (als Vormund oder Pfleger) organisatorisch und personell zu trennen.

21. Die Sicherung von Vertraulichkeit, wie sie insbesondere in den Bestimmungen des Sozialdatenschutzes des SGB VIII zum Ausdruck kommt, ist für Schutz und Hilfe bei Kindeswohlgefahrdung keine Beschränkung, sondern Bedingung fachlich-qualifizierten Handelns. Sie trägt dazu bei, dass die Schwelle zur Inanspruchnahme der notwendigen Hilfen nicht zu hoch ist. Allerdings bestehen in Fachkreisen unterschiedliche Auffassungen darüber, ob diese datenschutzrechtlichen Bestimmungen dem fremdnützigen Charakter des Elternrechts ausreichend Rechnung tragen.

22. Die durch einige spektakuläre Strafverfahren bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Jugendämtern ausgelöste Angst vor haftungsrechtlichen Konsequenzen steht in keinem Verhältnis zum tatsächlichen strafrechtlichen Haftungsrisiko. Zudem trägt solche Angst nicht dazu bei, die als fachlich richtig erachtete Vorgehensweise zu wählen, sondern fordert ein Verhalten, dass sich im Zweifel eher an der eigenen Risikoabsicherung denn an Schutz und Hilfe für gefährdete Kinder orientiert. Wie das von Prof. Dr. Hans-Jörg Albrecht, dem Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht (Freiburg i. Br.) für die Kommission erstellte und im Anhang abgedruckte Gutachten zudem zeigt, gilt für Sozialarbeiter ebenso wie für andere Angehörige von Berufen mit vergleichbarer Ausrichtung (z. B. Psychologen), dass bei Prognose-Entscheidungen eine strafrechtliche Haftung für Unterlassen (Stichwort "Garantenpflicht") nur für extreme Ausnahmefälle in Betracht kommt. Die Erweiterung von Strafbarkeitsrisiken durch die Strafjustiz ist in diesem Feld, so Albrecht, offensichtlich eng verknüpft mit der Wahrnehmung von kriminalpolitischen Interessen und mit der Sensibilisierung für die Schutzbedürftigkeit bestimmter Opfergruppen. Systematische und theoretische Erwägungen spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle.

23. Die gesetzlichen Bestimmungen zur Gewährleistung des erforderlichen Schutzes und der Hilfe zugunsten von Kindern werden insgesamt als ausreichend eingeschätzt. Der Ruf nach "strengeren" Gesetzen wird eher als Ablenkung gegenüber den zum Teil defizitären Ausstattungen bei den jeweiligen Institutionen interpretiert. Die Verstärkung präventiver und partizipativer Handlungsansätze steht der Notwendigkeit nicht entgegen, im Bedarfsfalle Hilfe so zu gestalten, dass Kontrollen zur Sicherung des Kindeswohls vorgesehen sind bzw. das Familiengericht angerufen wird oder auch die Polizei eingeschaltet wird, wenn akuter Gefährdung zu begegnen ist oder für weitere Schritte Beweise anders nicht gesichert werden können. Bei einzelnen Bestimmungen sollte allerdings geprüft werden, inwieweit nicht Klarstellungen angebracht sind und Fehlinterpretationen vermieden werden können, die zu Lasten des Kindeswohls gehen können.

24. Formale Anzeigepflichten (für jedermann) oder auch spezielle Meldepflichten für Ärzte, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter (gegenüber amtlichen Hilfeinstitutionen und/oder Strafverfolgungsbehörden), wie sie in gewissen Abständen in Deutschland und auch in einigen anderen Staaten erwogen, zum Teil auch eingeführt, zum Teil später wieder abgeschafft wurden, werden als wenig hilfreich angesehen. Vielmehr sollte mehr dafür getan werden, dass die notwendige Kooperation der mit Kindeswohlgefährdung befassten Stellen (immer wieder neu) verstärkt bzw. gefordert wird.

25. Im Hinblick darauf, dass viele Tätigkeiten der Jugendämter einer rechtsaufsichtlichen Kontrolle nicht zugänglich sind und der Weg zu den Verwaltungsgerichten nur von einer Minderheit beschritten wird, sollte über andere Instrumente zum Schutz der Leistungsberechtigten und ihrer Rechte nachgedacht werden. Die Diskussion über "Beschwerdemanagement" sollte forciert werden.

26. Der Evaluation von Einrichtungen, Programmen und Interventionsprozessen muss künftig zur Verbesserung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die kontinuierliche, systematische, d. h. methodisch kontrollierte und nachvollziehbare Dokumentation und Evaluation der Kinder- und Jugendhilfepraxis muss als Qualitätsstandard betrachtet werden. Zu empfehlen sind sowohl Verfahren der Selbst- als auch der Fremdevaluation.

27. Evaluation ist Voraussetzung und Chance, die Reflexions- und Handlungsfähigkeit der Professionellen durch empirische Informationen zu unterstützen; sie kann beitragen zur Transparenz von (Hilfe-)Prozessen und Ergebnissen und letztlich auch Antworten auf Fragen nach Wirksamkeit und Nachhaltigkeit geben, die vor dem Hintergrund knapper Ressourcen verstärkt zu stellen sind. Zu erwarten sind somit Hinweise für eine bessere Allokation der vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen. In diesem Zusammenhang sind Bewertungskriterien sowohl empirisch aufzuklären als auch in den Einrichtungen zu verhandeln. Eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise ist hierbei nicht angemessen.

28. Professionelles Handeln hat es mit komplexen, nicht-standardisierbaren Problemstellungen zu tun, die nur in Kooperation ("Koproduktion") mit den Betroffenen bearbeitbar sind. Es ist immer ein "Handeln mit Risiko". Professionelle müssen unter zumeist prekären Bedingungen anamnestisch und diagnostisch tätig werden, d. h., eine eigenständige Fallanalyse als Voraussetzung für eine Hilfeplanung/Intervention leisten. Professionalität im Kontext von Misshandlung ist zentral zu bestimmen über die Fähigkeit zur (multiperspektivischen) Fallanalyse, über die Fähigkeit zur Gestaltung von "Arbeitsbündnissen" und nicht zuletzt über die Fähigkeit zur Expertise, d. h. zur Darstellung und Begründung des eigenen Urteils.

29. Die Struktur der zu bearbeitenden Probleme erfordert ein hohes Maß an Autonomie der Professionellen und zugleich an „(Selbst-)Reflexivität“. Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle (z. B. durch Supervision, kollegiale Beratung, Evaluation), zur kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung und die Bereitschaft und Fähigkeit zu interdisziplinärer Zusammenarbeit gehören zu den Standards der Berufsausübung. Professionelles Handeln ist aber auch auf entgegenkommende Rahmenbedingungen und Strukturen in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe angewiesen.

30. Im grundständigen Studium der Sozialarbeit sind kindheits- und familientheoretische Kenntnisse und der Stand der sozialwissenschaftlichen Kindheits- und Familienforschung zu vermitteln, vor deren Hintergrund erst eine Auseinandersetzung mit Interventions- und Präventionskonzepten des Kindesschutzes stattfinden kann. Zentral ist die Vermittlung bzw. Aneignung von Konzepten der sozialpädagogischen Fallanalyse. Bereits im grundständigen Studium müssen ausreichend Möglichkeiten zur Einübung in das sozialpädagogische Fallverstehen (Fallanalysen) zur Verfügung stehen, aus denen Fähigkeiten zur prognostischen Entscheidung und zur Risiko- bzw. Folgenabschätzung entwickelt werden können.

31. Die disziplin- bzw. professionsspezifische Fort- und Weiterbildung sollte ergänzt werden durch regelmäßige interdisziplinär und interprofessionell angelegte Fortbildungen für die in dem in Rede stehenden Handlungsfeld tätigen Professionen und Berufsgruppen (Staatsanwälte, Jugend- und Familienrichter, Polizei, (Grundschul-)Lehrer/innen, Ärzt/inn/e/n, Therapeut/inn/en u. a.), durch die die notwendige Kooperation verbessert werden kann. Besonders Erfolg versprechend erscheinen Projekte, die Fort- und Weiterbildung mit Praxis-, Organisations-/Personal- und Qualitätsentwicklungsvorhaben bzw. auch mit Praxisforschungs- und Evaluationsprojekten verbinden.

32. Zur Sicherung eines regional bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Fort- und Weiterbildungsangebots sollten regionale Verbünde (Fort- und Weiterbildungsnetzwerke) geschaffen werden, die nicht nur das Angebot - orientiert an regionalen/lokalen Problem- und Bedarfslagen - abstimmen, sondern auch für die Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung von Fort- und Weiterbildungsangeboten Sorge tragen.

33. Sollen Schutz und Hilfe bei Kindeswohlgefährdung gewährleistet werden, verlangt dies nicht nur den Blick auf den Einzelfall, sondern auch insgesamt auf die Situation von Kindern in dieser Gesellschaft, ihre Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabechancen. Voraussetzung hierfür ist die umfassende Teilhabe an und der ungehinderte Zugang zu den sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft.

34. Unsere Gesellschaft muss mehr Rücksicht nehmen auf Grundbedürfnisse von Kindern. Nicht nur Kinder müssen lernen, sich an Verhältnisse und Gegebenheiten anzupassen. Die Erwachsenen sind verantwortlich dafür, dass die Verhältnisse und Gegebenheiten möglichst so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen von Kindern gerecht werden, notfalls mit der Folge, dass eigene Ansprüche reduziert werden müssen.

35. Kinder sind unabdingbar auf emotionale Zuwendung in Primärbeziehungen und auf die Zugehörigkeit zu tragenden Gemeinschaften angewiesen. Deshalb kommt der Familie zentrale Bedeutung zu. Sie ist die "Basisinstitution der Entstehung von Formen menschlicher Gegenseitigkeit", eine Elementarform des Sozialen. Vor dem Hintergrund Ökonomischer und sozialer Wandlungsprozesse und gewachsener Ansprüche an die Familie ist aber von einer tendenziellen Überforderung von Eltern/Familien auszugehen, insbesondere unter der Bedingung eines Mangels an ökonomischem, kulturellen und sozialen Kapital.

36. Eine gezielte Lebenslagepolitik zugunsten von Kindern und ihren Familien muss daher hohe Priorität haben. Dazu gehören Maßnahmen zur angemessenen materiellen Ausstattung von Familien, die es Frauen und Männern ermöglichen, ihre Sorge-, Sozialisations- und Erziehungsaufgaben (Entwicklung von "Daseinskompetenzen") angemessen wahrzunehmen. Der Armutsvermeidung, d. h. der Vermeidung von Unterversorgung in zentralen Lebensbereichen (Einkommen, Wohnen, Bildung, Gesundheit u. a. ) ist hohe politische Priorität beizumessen.

37. Weitere Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Ausbildung/Beruf und Elternschaft/Familie für beide Geschlechter sind unabdingbar. Dazu gehört insbesondere der Ausbau von Betreuungseinrichtungen für Kinder bis zu drei Jahren und im Grundschulalter und bedarfsgerechte, kostenfreie Angebote von familienergänzenden Angeboten der Betreuung und Erziehung.

38. Besonders dramatisch wirken sich Überforderungssituationen für Säuglinge und Kleinkinder aus, weil sie nicht auf sich aufmerksam machen können, wenn Eltern sie nicht adäquat versorgen (können). Deshalb sollte geprüft werden, inwieweit nicht so genannte frühe Hilfen ausgebaut werden können - auch in Zusammenarbeit mit Hebammen, Kliniken und Kinderärzt/inn/en (und den zuständigen Kostenträgern, also insbesondere den Krankenkassen).

39. Konzepte der Elternarbeit (Elternbildung), wie sie etwa von Familienbildungsstätten vertreten werden, aber auch Ehe-, Familien-, Erziehungs- und Lebensberatungsstellen, müssen neue Anstrengungen unternehmen, damit sie auch die Adressaten tatsächlich erreichen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Offene Angebote für Mütter, Kinder und ganze Familien, die eine nachbarschaftlich orientierte soziale Infrastruktur herstellen, nach dem "Laien mit Laien-Prinzip", also in Richtung Selbsthilfe und Empowerment, sollten ausgebaut werden.

40. Professionelle Leistungsangebote sollten so ausgerichtet sein, dass die Kompetenzen der Eltern zum Tragen kommen können. Gerade kulturelle Unterschiede in den Familien stellen hier eine besondere Herausforderung dar.

41. Bildung ist nicht nur Kapital auf den Arbeitsmärkten, sondern auch eine zentrale Ressource in der Lebensbewältigung. Sie bestimmt zentral die Lebenschancen und Lebensmöglichkeiten von (jungen) Menschen. Nicht zuletzt ist Bildung Voraussetzung für eine humane Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Insofern muss die besondere Aufmerksamkeit auf die Bekämpfung der "Bildungsarmut", insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, gerichtet werden. Anstrengungen der Schule und anderer (außerschulischer) Bildungsinstitutionen können allerdings nur dann fruchtbar sein, wenn die familialen Verhältnisse entgegenkommend sind, also nicht durch übergroße Belastungen deren Handlungs- und Gestaltungsspielräume einschränken.

42. Künftig stärker zu fördern sind Gelegenheitsstrukturen für außerschulische und außerfamiliäre Lern- und Bildungsprozesse, etwa in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt um der Überforderung von Familien entgegenzuwirken bzw. deren Potenzial zur Geltung bringen zu können, bedarf es der sozialpädagogischen Unterstützung der Schule und der Förderung außerschulischen Lern- und Bildungsgelegenheiten, vor allem aber auch eines (neuen) Arrangements zwischen den Instanzen, die für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen Verantwortung tragen bzw. deren Verantwortung einzufordern ist.

43. Zur Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere von sozial benachteiligten Kindern, Jugendlichen und deren Familien bedarf es einer gezielten integrierten Stadtteil- und Quartiersentwicklung im Rahmen einer gemeinwesenorientierten Stadtpolitik, die zentral die Lebenswelt, die sozialen Verhältnisse und die soziale Infrastruktur im Blick hat. Prozessen der bewussten Auseinandersetzung mit den sozialen Beziehungen, der Erschließung von Ressourcen, insbesondere der Aktivierung informeller Unterstützungsressourcen und der Stützung sozialer Milieus kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip ist ein bewährtes Programm. Der soziale Nahraum wird jedoch nur dann als Ressource wirksam werden können, wenn eine bedarfsgerechte Ausgestaltung der Rahmenbedingungen erfolgt.

44. Wenn Jugendhilfe präventiv, wirkungsvoll und nachhaltig handeln will, muss sie in den Lebensfeldern ihrer potenziellen Adressaten präsent sein und ihre Adressaten als Akteure ernst nehmen. Zielsetzung muss sein, ihre Leistungen als integralen Bestandteil von Gemeinwesen zu entwickeln, was eine regional und dezentral an Sozialräumen ausgerichtete Weiterentwicklung ihrer Angebotsstrukturen erfordert.

45. Das größte Defizit in der Arbeit zum Schutz gefährdeter Kinder besteht weniger darin, dass nicht genügend Problembewusstsein bestünde. Vielmehr bedarf es besonderer Initiativen, dass Fachkräfte, die in welcher Weise auch immer mit Kindern zu tun haben, besser in ihrer Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit geschult werden. Besonnenes Handeln kann dann ebenso vorsichtige Zurückhaltung bedeuten wie entschlossene Intervention - je nach den Erfordernissen des Einzelfalls.

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