FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2008

 

Pflegekinder und der familienrechtliche Schutz
ihrer Bindungen an ihre Bereitschaftspflegefamilie

 von Claudia Marquardt

 

„Bindung ist für das Überleben eines Menschen so grundlegend wie etwa die Luft zum Atmen, Ernährung , und Schlaf.“ (1)

Die emotionale Versorgung und die Zufuhr von Liebe ist für Kinder überlebensnotwendig (2).

Es ist für die geistige, seelische und körperliche Entwicklung eines Kindes riskant, vorhandene Bindungen zu unterbrechen. Denn stabile Bindungen sind einer der wichtigsten Bausteine für eine gesunde kindliche Entwicklung. Das ist durch wissenschaftliche Forschung gut abgesichert. Stabile Bindungen beeinflussen die Entwicklung der Persönlichkeit und vor allem das soziale Verhalten des Kindes und machen es nicht nur fähig zu Mitgefühl, sondern ermöglichen es ihm auch, später als erwachsene Person gute Bindungen zu den eigenen Kindern einzugehen. Wir wissen, dass die Qualität der Bindung von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird (3).

Kinder sind auf stabile Lebensverhältnisse angewiesen, Sie benötigen Geborgenheit und Kontinuität. Daraus ergibt sich für die Jugendhilfe die logische Konsequenz, dass Kinder, die bei ihren biologischen Eltern nicht bleiben können, schnell und auf Dauer in einer Familie untergebracht werden sollten, damit sie dort neue – heilsame - Bindungen eingehen können.

Leider sieht die Praxis anders aus.

Zu viele Babys und Kleinkinder werden vorübergehend in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht. Und diese vorläufigen Unterbringungen dauern oft länger als ein halbes Jahr, manchmal sogar 2 Jahre.

Oft wird die Entscheidung des Familiengerichtes abgewartet. Gelegentlich  dauert es länger als ein halbes Jahr,  bis geklärt ist, dass das Kind nicht bei seinen leiblichen Eltern aufwachsen kann oder bis eine „geeignete Dauerpflegefamilie“  gefunden wurde.

Aber gerade für kleinere Kinder sind Trennungen besonders schädlich.

„Ein Abbruch der Eltern-Kind-Beziehung in den ersten Lebensjahren schädigt die kindliche Entwicklung, indem sie dem Kind die Basis für seine Orientierung über die Welt und sich selbst entzieht. Ihre Auswirkungen sind umso gravierender, je mehr das Kind auf diese Orientierung noch angewiesen ist….Allgemein wird eine besondere Trennungsempfindlichkeit für Kinder zwischen etwa sechs Monaten und sieben Jahren konstatiert, mit einer hochsensiblen Phase zwischen sechs Monaten und drei Jahren“ (4).

Deshalb sollten die Verantwortlichen, Jugendämter, freie Träger und Einzelvormünder dafür Sorge tragen, dass zumindest kleinere Kinder ganz schnell in Pflegefamilien untergebracht werden sollten, in denen die Option des dauerhaften Verbleibs möglich ist.

Es gibt Jugendämter, die über sehr viele  potentielle Pflegefamilien verfügen, und deshalb in der Lage sind, kleine Kinder innerhalb von wenigen Tagen so unterzubringen, dass die Kinder dort bleiben könnten. Viele Jugendämter wandeln, auch ohne  zu zögern, eine Bereitschaftspflege nachträglich in eine Dauerpflege um, wenn sich später zeigt, dass ein Kind entgegen früherer Annahmen doch nicht zu seinen biologischen Eltern zurückkehren kann.

„Kinder, die in ihren ersten Lebensmonaten in einer Pflegefamilie Aufnahme finden, werden zu ihren Pflegeeltern innerhalb kurzer Zeit eine Bindungsbeziehung aufbauen. Voraussetzung hierfür ist lediglich ein Mindestmass an Feinfühligkeit und psychologischer Verfügbarkeit seitens der Pflegeeltern“ (5).

Aus den Berichten von unzähligen Pflegefamilien weiß ich, welche Schmerzen  Kinder durch die Trennung von ihrer Bereitschaftspflegefamilie erleiden. Auch wenn der Wechsel in großer Langsamkeit und allergrößter Kooperation zwischen Bereitschaftspflegefamilie und der neuen Pflegefamilie  vor sich ging, litten die Kinder und trugen –unnötige- Schäden davon.

Dr. Heinz Kindler berichtete auf dem Deutschen Familiengerichtstag in der Arbeitsgruppe zu Pflegekindern, dass nach 2 bis 3 Trennungen  40 % der Kinder schwere Störungen aufweisen.

Bereitschaftspflegefamilien, die darauf hinweisen, dass die Kinder Bindungen in ihrer Familie entwickelt haben, erhalten meist die Auskunft, dass sie rechtlos seien.

Es ist aber schlicht falsch, dass Bereitschaftspflegeeltern, Außenwohngruppen von Kinderheimen oder Erziehungsstellenfamilien nicht berechtigt seien, beim Familiengericht einen Verbleibensantrag für ihr Pflegekind zu stellen.

Aber was sind tatsächlich die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Verbleibensantrag?

  • Jemand, der das Recht hat, über den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, kündigt an, dass er beabsichtigt, das Kind aus der Pflegefamilie herauszunehmen.
     
  • Das Kind lebt in Familienpflege.
    Das Familienrecht versteht unter Pflegeeltern erwachsene Personen, die ein Kind pflegen. Es ist völlig unerheblich, wie die Jugendhilfe diese Pflegeeltern einstuft (6). Auch Bereitschafts- oder Erziehungsstellenpflegeeltern oder Eltern, die ein Kind in Adoptionspflege betreuen, sind Pflegeeltern. Das gleiche gilt für eine Familie, die eine „Außengruppe“ eines Heimes ist. Auch der nicht sorgeberechtigte Vater oder Verwandte, die ein Kind pflegen, sind nach dem Familienrecht Pflegeeltern. Wichtig ist nur, dass das Kind in einer Familie und nicht in einem Heim lebt. Entscheidend ist die tatsächliche Gestaltung. Sogar ein „Heim“ kann unter Umständen familienrechtlich als „Pflegefamilie“ angesehen werden. Entscheidend ist, dass tatsächlich Pflegeperson und Kind wie in einer Familie zusammenleben (7).
    Auch wenn sich Pflegeeltern vertraglich verpflichtet hatten, das Kind wieder herauszugeben, haben sie ein Recht auf eine familiengerichtliche Verbleibensanordnung. Denn die Verbleibensanordnung schützt das Pflegekind vor dem Verlust seiner Bindungen, sie ist Ausdruck seines Grundrechtes auf eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und kann deshalb nicht durch Vertrag geregelt werden.
     
  • Das Kind muss „längere Zeit“ in Familienpflege leben.
    Je jünger ein Kind ist, desto kürzer ist jener Zeitraum, der berechtigt, auf die Entstehung von Bindungen zu schließen, die ohne Schadensrisiko nicht mehr aufzuheben sind (so das OLG Köln, FamRZ 2007, 658, 659). Spätestens nach 6 Monaten liegt bei einem Kleinkind die Voraussetzung der längeren Zeit vor (8). Das Oberlandesgericht Köln bejahte die längere Zeit für ein drei Monate altes Baby, das sich drei Monate in einer Pflegefamilie befand (9).
     
  • Das Kind würde durch die Herausnahme aus der Pflegefamilie seelischen oder körperlichen Schaden erleiden.
    Wenn nicht die Rückkehr zu den leiblichen Eltern, sondern nur ein Wechsel der Pflegefamilie beabsichtigt ist, dann steht die Pflegefamilie unter dem vollen Schutz des Art. 6 GG. Soll das Kind nicht zu den leiblichen Eltern zurückkehren, sondern nur in eine andere Dauerpflegefamilie wechseln, so ist die Herausnahme aus der Pflegefamilie, in der das Kind gerade lebt, nur zulässig, wenn seelische und körperliche Schäden ausgeschlossen werden können. (so das Bundesverfassungsgericht  in seiner Entscheidung im 75. Band., 201, 220).
    In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht beraten, durch zwei Professoren aus dem Fachbereich Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, ausdrücklich ausgeführt:
    „Die Trennung von Kleinkindern von ihren unmittelbaren Bezugspersonen“ hat „unbestrittenermaßen als ein Vorgang mit erheblichen psychischen Belastungen und mit einem schwer bestimmbaren Zukunftsrisiko zu gelten“ (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im 75. Band, 201, 219).

Tipp für die Praxis

Spätestens, wenn angekündigt wird, dass das Pflegekind die Familie wechseln soll, sollten sich Pflegeeltern eingehend rechtlich beraten lassen, falls sie den Verbleib ihres Pflegekindes in ihrer Familie wünschen. Je früher Pflegeeltern anwaltliche Beratung suchen, umso effizienter und schneller kann man helfen.

Unser Büro hat bisher in allen Fällen, in denen das Jugendamt oder ein freier Träger ein Kind aus einer Bereitschaftspflegefamilie in eine Dauerpflegefamilie wechseln lassen wollte, den Verbleib des Kindes in der Bereitschaftspflegefamilie sichern können. Dies geschah entweder durch Verhandlungen mit dem Jugendamt oder durch eine familiengerichtliche Anordnung.

marquardt & wilhelm
FACHANWÄLTINNEN FÜR FAMILIENRECHT
Berlin  ·  Köln
Claudia Marquardt
0221/9405670 
advocado@netcologne.de
www.marquardt-wilhelm.de

Literatur
(1)     Karl Heinz Brisch, Vortrag auf dem 17. Deutschen Familiengerichtstag, 2007, in:
         Brühler Schriften zum Familienrecht, Herausgeber:Deutscher Familiengerichtstag, 
         Bielefeld 2008, S. 89

(2)     Brisch, ebenda

(3)     Roland Schleiffer, Die Pflegefamilie: eine sichere Basis? Über Bindungsbeziehungen
         in Pflegefamilien, in: Zur Bedeutung der Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie
         und Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflegekindern,  in:
4. Jahrbuch des
         Pflegekinderdienstes, Herausgeberin: Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes,
         Idstein, 2008

(4)     Gisela Zenz, Zur Bedeutung der Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und
         Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflegekindern,  in:
2. Jahrbuch des
         Pflegekinderdienstes, Herausgeberin: Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes,
         Idstein, 2005

(5)     Schleiffer, ebenda, S. 21

(6)     Claudia Marquardt, Verbleib oder Rückkehr aus familienrechtlicher Sicht,
         in: 4. Jahrbuch des Pflegekinderwesens, Verbleib oder Rückkehr?
         Perspektiven für Pflegekinder  aus psychologischer und rechtlicher Sicht,
         Herausgeberin: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes, Idstein 2007, S 73-99,S. 76

(7)    Marquardt, ebenda S.76

(8)    Marquardt, S.76

(9)    OLG Köln FamRZ 2007, 658, 659

 

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