FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2005

 

Konsequenzen für die Pflegeeltern
Übertragung traumatischer Bindungs-
und Beziehungserfahrungen in die Pflegefamilie.

Anforderungen an Pflegeeltern und notwendige Unterstützung

von Oliver Hardenberg

 

Dieser Aufsatz wird veröffentlicht in der Tagungsdokumentation zum 16. Tag des Kindeswohls vom 30. Mai 2005 in Magdeburg: „Bindung und Trauma – Konsequenzen in der Arbeit für Pflegekinder“. Die Dokumentation erscheint Ende Januar 2006 im Schulz-Kirchner Verlag zum Preis von 9,80 Euro. Herausgeberin ist die Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (s. www.stiftung-pflegekind.de).

 

1. Traumatische Bindungs- und Beziehungserfahrungen

1.1. Definitionen

Die Autoren Fischer und Riedesser (1999, S. 79) befassen sich in ihrem „Lehrbuch der Psychotraumatologie“ ausführlich mit der Definition des Begriffes „psychisches Trauma“ und führen dazu aus: „...können wir psychisches Trauma jetzt näher definieren, und zwar als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“. An anderer Stelle dieses Lehrbuches (S. 55) verweisen sie im Zusammenhang mit dem psychischen Trauma auf ein „subjektives Erleben von Todesangst bzw. von Todesnähe“.

In dem Fachbuch „Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation in Ersatzfamilien“ – dem Standardwerk im Pflegekinderwesen – definieren die renommierten Pflegekinderexperten Nienstedt und Westermann (1998, S. 90) das psychische Trauma, das viele Pflegekinder erlebt haben, wie folgt: „Von traumatischen Erfahrungen sprechen wir dann, wenn von Eltern die elementarsten Bedürfnisse des Kindes nicht wahrgenommen und respektiert werden und wenn das Kind von seinen Eltern überwältigt wird und sie dadurch als Schutzobjekt verliert“.

Als Psychotherapeut und Forscher im Gebiet der Psychotraumatologie stellt Hirsch (2004, S. 54 f) in einer umfangreichen Forschungsarbeit über das Trauma in der Familie Erkenntnisse über psychotraumatische Erfahrungen zusammen. Unter Bezugnahme auf Ferenczi zeigt Hirsch, dass solche kindlichen traumatischen Erfahrungen in einer Beziehung (nämlich zu Eltern) stattfinden und betont die traumatische Beziehungsabfolge: das Leugnen des Erwachsenen, die Nichtanerkennung der affektiven Qualität des Geschehenen und die Weigerung der Auseinandersetzung damit, führe zur Konfusion und Verwirrung des Kindes. Es bewirke „das Verrücktwerden“ des Kindes an der erlebten, von den Erwachsenen jedoch verleugneten Realität.

1.2. Praxiserfahrungen zum Umgang mit traumatisierten Pflegekindern

In der Arbeit für Pflegekinder ist der Aspekt der erlebten Realität des Kindes und der Verleugnung dieser kindlichen Realität durch leibliche Eltern, Pflegeeltern und Professionelle von zentraler Bedeutung.

Meine berufliche Erfahrung in der Praxis des Pflegekinderwesens zeigt, dass - aus unterschiedlichen Motiven – die kindliche Realität traumatischer Erfahrungen von den beteiligten Erwachsenen oft nicht angemessen wahrgenommen wird und traumatisierende Eltern idealisiert werden. Will man dem Kind jedoch gerecht werden und ihm helfen, das Erlebte zu verarbeiten, muss man sich als Professioneller im Pflegekinderwesen und als Pflegeeltern konkret vorstellen können, was kindliche traumatische Erfahrungen im jeweiligen Alter bzw. in der jeweiligen Entwicklungsphase des Kindes bedeuten und dabei vor Augen haben, dass Säuglinge und Kleinkinder existenziell von Eltern abhängig sind. Denn diese Tatsache hat zur Folge, dass durch die Beziehungsperson verursachte traumatische Erfahrungen zu einer existentiell erlebten Bedrohung beim Kind führen.

Nicht selten fällt die Frage, ob ein Pflegekind traumatische Vorerfahrungen aufweist, in der Praxis der Jugendhilfe der Verleugnung anheim oder man stellt sie sich nicht aus Sicht des Kindes vor. So kann zum Beispiel eine Pflegekinderforschung, die sich im wesentlichen auf Interviews mit Erwachsenen bezieht (wie es in der Praxis vielfach der Fall ist), ohne ein Kind zu untersuchen, keine relevanten Aussagen über den Anteil traumatisierter Kinder unter den Pflegekindern machen. Auf einer solchen Basis lassen sich keine Schlussfolgerungen für fachliches Handeln im Pflegekinderwesen, z. B. zu Fragen des Umgangsrechts oder zu Rückkehroptionen diskutieren.

Auch reichen zur Beantwortung der Frage nach traumatischen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie nicht alleine die bekannten Tatsachen aus den Jugendamtsermittlungen aus; es müssen auch die Angstinhalte und Reaktionsauffälligkeiten des Pflegekindes im Integrationsprozess berücksichtigt werden. Nicht selten wird erst im Verlauf des Integrationsprozesses eines Pflegekindes in der Pflegefamilie deutlich, wie tiefgreifend es seelisch verletzt bzw. traumatisiert wurde.

In der öffentlichen Diskussion zum Pflegekinderwesen ist festzustellen, dass es offensichtlich schwer fällt zu realisieren und zu akzeptieren, dass es in unserer Gesellschaft eine prozentual geringe Gruppe von Erwachsenen gibt, die gravierend erziehungseingeschränkt oder erziehungsunfähig sind und dadurch ihre Kinder in grundlegender Weise traumatisieren.

1.3. Die Lebenswirklichkeit traumatisierter Pflegekinder

Leibliche Eltern, die das Kind durch chronische Vernachlässigung, psychische und physische Misshandlung, sexuellen Missbrauch im Säuglings- und Kleinkindalter traumatisiert haben, weisen in der überwiegenden Zahl selber unverarbeitete traumatische Kindheitserfahrungen ähnlicher Qualität auf. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass alle Eltern mit traumatischen Erfahrungen diese in der erfahrenen Form an ihre Kinder weitergeben (siehe Dornes, 2002, S. 216 ff. zum Forschungsstand der „Intergenerationellen Transmission“ bzw. zur Frage „Waren misshandelnde Eltern selbst misshandelte Kinder?“). Es ist jedoch naheliegend, dass Eltern, die selber nie Verständnis, Hilfe und Schutz für ihre kindlichen traumatischen Erfahrungen gefunden haben und damit ihre Realität verleugnet sahen, die Realität der traumatischen Erfahrungen ihrer Kinder nicht erkennen können und ihnen folglich die Möglichkeit zur Einnahme der Opferperspektive fehlt.

Die Lebenswirklichkeit traumatisierter Kinder schwer erziehungseingeschränkter bzw. erziehungsunfähiger Eltern ist folgendermaßen zu beschreiben: chronische Vernachlässigung, psychische und physische Misshandlung, sexueller Missbrauch des Kindes durch Eltern, die sich nicht einmal ansatzweise in die so entstehende schreckliche Not des Kindes einfühlen können.

Fallbeispiel: Der Gerichtsgutachter hat morgens um 10.30 Uhr einen Termin in einer Familie mit einem 15 Monate alten Mädchen und einem vierjährigen Jungen und möchte die Kinder sehen. Lange Zeit sucht die Kindesmutter nach einer Türklinke für das Kinderzimmer. In einem abgedunkelten Raum steht ein hellwacher Säugling im Gitterbett  und isst Tapeten. Die Frage, wie es dem Säugling jetzt gehe, beantwortet die leibliche Mutter mit „gut“ und „ich habe früher auch Tapeten gegessen“. Als die Kindesmutter den Säugling aus dem Bettchen gehoben hat, hält sie ihn wie einen Fremdkörper auf dem Arm. Der vierjährige Junge tobt wie von Sinnen über Tische und Stühle. Von Nachbarn kommen Hinweise auf Alkoholexzesse der Eltern und fürchterliches Schreien der Eltern und Kinder in der Wohnung. Immer wieder kommt es unter Alkoholeinfluss zu massiven gewalttätigen Auseinandersetzungen der Eltern.

Um welche Kinder mit welchen Erfahrungen in der Herkunftssozialisation es sich bei Pflegekindern in einer Vielzahl handelt, soll die nachfolgende Auflistung typischer Fälle traumatisierter Kinder erziehungsunfähiger Eltern zeigen, wobei zu berücksichtigen ist, dass fremd untergebrachte  Kinder auch multiple traumatische Erfahrungen aufweisen können (beispielsweise kann dem sexuellen Missbrauch durch den Vater in der Familie chronische Vernachlässigung im Säuglingsalter durch die Mutter sowie auch körperliche Gewalt vorausgegangen sein):

  • es geht um Kinder, die bereits im Säuglingsalter schwer verwahrlost wurden, die unregelmäßig zu essen und trinken bekamen; die einfach stundenlang weggelegt wurden; mit denen kaum Augenkontakt aufgenommen wurde; mit denen keine dialogischen Mutter-Kind-Beziehungen aufgebaut wurden; die ständig wie ein Fremdkörper gehalten wurden; auf deren Weinen und Schreien beständig nicht oder sogar mit verbaler und manchmal körperlicher Gewalt reagiert wurde; die keine Hilfe erfuhren, ihre Ängste zu regulieren; die sich in einem apathischen Zustand befanden, nicht mehr lächeln konnten und sich wegschliefen; die Hospitalismussymptome zeigten.
  • es geht um kleine Kinder, die verbal erniedrigt, manchmal sogar regelrecht terrorisiert wurden; die über Stunden oder über Nächte in ihr Zimmer oder zur Strafe in einen Schrank eingesperrt wurden; die mit heißen oder kalten Duschen gestraft wurden; die angebunden am Stuhl zwangsgefüttert wurden; die beständig mit massivem Drogenkonsum der Eltern konfrontiert waren; die immer wieder verprügelt wurden; denen man drohte, sie aus dem Fenster zu schmeißen, wenn sie nicht aufhören zu schreien; die beständig mit Eltern konfrontiert waren, die unter extremem Alkoholkonsum sich gegenseitig massiv verbal und körperlich attackierten; denen mit einem Messer gedroht wurde; die erleben mussten, dass ihr Geschwister von den Eltern misshandelt oder manchmal sogar umgebracht wurde; die sogar erleben mussten, wie ein Elternteil den anderen umbrachte; denen man ein Kissen ins Gesicht drückte, weil sie schrien; die beständig in der Nachbarschaft und Verwandtschaft hin- und hergereicht wurden, eine Odyssee von Bezugspersonen und Lebenswelten erlebten und dadurch völlig bindungsgestörte Kinder sind; kleine Kinder, die schon im Säuglings- und Kleinkindalter sexuelle Übergriffe erlebten; kleine Kinder, die immer wieder ohne jeglichen Schutz den Wahnzuständen oder versuchten Suizidhandlungen der Mutter ausgesetzt waren; Säuglinge und Kleinkinder, die Misshandlungsspuren aufweisen; kleine Kinder die in desolaten Müllhaushalten aufwuchsen, die Wohnung kaum verlassen haben, ärztlich nicht behandelt wurden, eingewachsene Fußnägel, offene Wunden und verfilzte Haare aufwiesen.
  • es geht um Kinder, die bei Eltern mit schweren Persönlichkeitsstörungen aufwuchsen und beständig in hoch pathologischen Beziehungsstrukturen lebten (permanentes Polarisieren von Gut und Böse, extreme und nicht nachvollziehbare Stimmungsschwankungen; Aufheben der Generationsschranken, bizarres Agieren) und deren Eltern keinerlei Einsicht in ihre massive psychische Problematik haben oder finden können
  • es geht um Kinder, die in Pflegefamilien unter schrecklichen Ängsten leiden („Monster laufen um das Haus und wollen mich und euch totmachen“); die von Angst erfasst durch die Wohnung laufen und lange nicht zulassen können, dass der Pflegevater das Kinderzimmer betritt; Kinder, die über Jahre von morgens bis abends reden, die Pflegemutter nicht aus den Augen lassen und ständig kontrollieren; Kinder, die ihre Ängste abwehren, indem sie auf pflegeelterliche Reglementierung und auf Frustration mit verbaler und körperlicher Aggression reagieren wie: Anschreien und Schlagen der Pflegeeltern, Zerstören von Sachen, Schlagen von jüngeren Kindern oder Tieren; Kinder, die unter schrecklichen Einschlafängsten und Alpträumen leiden und Angst vor einbrechenden Kinderklauern und Mördern haben; Kinder, die sich mit King Kong, Hitler, Bin Laden identifizieren und die ganze Welt zerstören wollen; Kinder, die keine Kinder mehr sein wollen und profunde Größenphantasien entwickeln; Kinder, die von niemandem mehr Hilfe erwarten und kaum noch Hilfe annehmen können; Kinder, die über Jahre Nahrung stopfen und stopfen; Kinder, die keine Schmerzempfindlichkeit mehr zeigen können und glauben, unverletzbar zu sein; Kinder, die mit phantasierten Personen durch die Gegend laufen; Kinder, die von sich sagen „ich bin ein Stück Scheiße und dürfte gar nicht leben“; Kinder im Vorschulalter, die Suizidgedanken äußern; Kinder, die der Pflegemutter sagen „meine alte Mutter hat mir mein Herz herausgerissen, deshalb lebe ich eigentlich gar nicht“; Kinder, die in Rollenspielen in der Pflegefamilie beständig Misshandlungsthemen aller Art spielen; Kinder, die Essensvorräte unter dem Bett und in Sofaritzen horten; Kinder, die sich in Konflikten selber schlagen oder in den Schrank sperren.
  • es geht um ältere Kinder, die beständig die Nachrichten angstvoll verfolgen „schon wieder wurde ein Kind getötet“; „bald ist Krieg“; Kinder, die vor lauter Angst nicht denken können und nur eingeschränkt schulfähig sind; Kinder, die normale Eltern-Kind-Beziehungen gar nicht mehr aushalten können und manchmal systematisch zerstören müssen; Kinder, die als „tickende Zeitbomben“ erlebt werden.
  • es geht um (Klein-)Kinder, die nachts wach liegen und sich nicht melden, weil sie längst die Hoffnung aufgegeben haben, dass jemand kommen und sie trösten könnte; oder sogar Angst haben, dass jemand kommt und sie anbrüllt oder schlägt.

Diese Fallvignetten sind keine „Extremfälle“, sondern Alltag in der Pflegekinderarbeit. Häufig wird Pflegeeltern und Professionellen im Pflegekinderwesen erst durch Wissensvermittlung sowie durch konkrete Besprechung der Biografie des Pflegekindes und des Verlaufes seiner Integration in die Pflegefamilie deutlich, dass es sich um ein traumatisiertes Kind handelt. Viele Pflegekinder haben traumatische Erfahrungen mit ihren leiblichen Eltern, von denen sie existentiell abhängig waren. Deshalb wurden diese Erfahrungen von den Kindern als existentiell bzw. tödlich bedrohlich erlebt.

In qualifizierten kinderpsychologischen Untersuchungen werden solche existentiellen Bedrohungserfahrungen des Kindes überdeutlich. Aber genauso kann das Kind in der Pflegefamilie auch in Täter-Opfer-Rollenspielen etwas von seinen Erfahrungen mitteilen „Du wärst jetzt mal das Baby“ und das Pflegekind tritt der auf dem Boden liegenden Pflegemutter mit aller Kraft in das Gesicht oder „ich wäre jetzt mal das Baby, hätte 10.000 Kilo Oberarme und haue Dich tot“.

Besonderes schwer fällt es sowohl Professionellen als auch Pflegeeltern, sich vorzustellen und nachzuvollziehen, dass auch ein Säugling in nur wenigen Tagen, Wochen oder Monaten so chronisch vernachlässigt oder misshandelt werden kann, dass er ein traumatisiertes Kind ist und sich über lange Zeit in der Pflegefamilie mit seinen verinnerlichten Erfahrungen in Form von schlimmen Ängsten und ungesteuerten massiven Wutdurchbrüchen auseinandersetzt.

Vielfach ist bei MitarbeiterInnen der Jugendhilfe die Ansicht festzustellen, dass allein die Tatsache, dass eine Frau ein Kind geboren hat oder ein Mann ein Kind gezeugt hat, automatisch bedeutet, dass man auch psychologisch/emotional Mutter oder Vater des Kindes geworden ist. Man muss sich jedoch zunächst dem Kinde gegenüber wie eine Mutter oder ein Vater verhalten, um psychisch und emotional Mutter und Vater des Kindes zu werden. Für manchen ist es nicht vorstellbar, dass es traumatisierte Pflegekinder gibt, die nicht trauern nach der Herausnahme aus der Herkunftsfamilie, sondern sich gerettet fühlen. Um Trauer oder Schmerz bei einer Trennung zu empfinden, bedarf es jedoch einer irgendwie positiv bedeutsamen Beziehung. So bedeutet die Trennung eines Neugeborenen von der leiblichen Mutter direkt nach der Geburt und das Aufwachsen in einer Adoptiv- oder Pflegefamilie nicht eine – wie zuvor definierte – traumatische Erfahrung.

Fallbeispiel: Ein Junge mit fürchterlichen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie hat bei liebevollen und geschulten Pflegeeltern im Laufe der Jahre eine insgesamt sehr positive Entwicklung genommen. Während einer jetzt laufenden heilpädagogischen Behandlung verlässt die Heilpädagogin kurzzeitig ihr Aufgabengebiet und fragt den Jungen: „Denkst Du manchmal noch an Deine richtigen Eltern?“. Der Junge antwortet: „Häh, die sehe ich doch jeden Tag“. Er hat seine Pflegeeltern zu seinen Eltern gemacht – eine Tatsache, die manchen schwer fällt zu akzeptieren.

2. Folgen traumatischer Bindungs- und Beziehungserfahrungen

In dem Aufsatz „Adoleszenz, Identität und Trauma“ führt Bohleber (2004, S. 237) zu den Folgen der psychischen Traumatisierung aus: „In all diesen Fällen wird eine Dissoziation des Selbst - die in der ursprünglichen traumatischen Szene eine Schutzfunktion hatte, um eine Überstimulierung oder Überflutung des Bewusstseins durch unerträglichen Schmerz und Angst zu verhindern – psychisch auf Dauer gestellt“.

Mit Dissoziation ist ein Zustand gemeint, in dem das Bewusstsein nicht mehr in der Lage ist, die Informationen von außen und von innen sinnvoll in Einklang zu bringen, und in Folge Gedanken und Gefühle getrennt werden. Dissoziation taucht häufig im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen auf und wird auch als das Gefühl beschrieben, neben sich zu stehen. Manche traumatisierte Pflegekinder, die sich noch an konkrete Erfahrungen erinnern können, berichten darüber, als seien sie gar nicht selbst involviert, sondern als sprächen sie über einen schlimmen Film, den sie gesehen hätten. Folge eines dissoziativen Zustandes kann es aber auch sein, dass eine Person sich an wichtige Dinge nicht mehr erinnern kann.

Weiter sagt Bohleber (S. 238) zu den Folgen: „Das Problem bei allen Traumatisierungen besteht darin, dass die eigene Wut und Aggression durch die traumatische Situation der Hilflosigkeit und Ohnmacht keinen Ausdruck finden kann“.

Jedes traumatisierte Kind, dass tiefgreifend seelisch verletzt oder misshandelt wird, empfindet nicht nur Angst sondern insbesondere ungeheuere Wut, die es aufgrund seiner Abhängigkeit nicht gegen die verursachenden Eltern richten kann und damit in einen unauflösbaren Konflikt gerät. Es muss zur psychischen Selbstregulation Mechanismen entwickeln und richtet zum Beispiel die Wut in Form von Autoaggression gegen sich selbst (Selbstabwertungen, Selbstverletzungen, Suizidimpulse).

Zu den Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen stellt van der Kolk (1998) in seinem Aufsatz „Zur Psychologie und Psychobiologie von Kindheitstraumata“ dar: „Wenn Betreuungspersonen jedoch außerordentlich inkonsistent, frustrierend, gewalttätig, eindringend oder vernachlässigend sind, empfinden Kinder ein Unbehagen (distress), das sie nicht durch eigenes Einwirken auf ihre Umwelt beseitigen können. Da sie sich auf ihre Betreuungsperson nicht verlassen können, sind solche Säuglinge extremer Angst, Wut und Sehnsucht nach ihren Bezugspersonen ausgesetzt“. (S. 40 f) Weiter führt er – die Praxis des Pflegekinderwesen mit traumatisierten Kindern bestätigend – aus: „Traumabezogene innere Schemata werden zu einem Teil des Selbst- und des Weltbildes einer traumatisierten Person. An diesen Schemata orientiert sie sich auch in ihren zukünftigen Handlungen und Erwartungen. (...) Viele dieser Menschen wiederholen in zwischenmenschlichen Beziehungen ihre familiären Muster, wobei sie abwechselnd die Rolle des Opfers und des Täters spielen können...“ .(S. 47)

Genau dieser Aspekt ist für Pflegeeltern und ihre BeraterInnen von zentraler Wichtigkeit. Die Forschungsergebnisse vieler Arbeiten in der Psychotraumatologie zeigen, dass traumatische Erfahrungen immer wieder eine Wirkung auf das aktuelle Erleben entfalten, als ob das Kind immer wieder mit der Erfahrung konfrontiert werden würde und darauf zu reagieren seine dauerhafte Aufgabe sei. Das bedeutet, dass es dem traumatisierten Pflegekind nicht allein hilft, dass es früher schreckliche Erfahrungen mit Eltern erlebte und heute positive mit wohlwollenden Pflegeeltern. Im Gegenteil ist es geradezu erforderlich, dass das Pflegekind seine traumatischen Erfahrungen in die Beziehungen mit den Pflegeeltern überträgt. Daraus ergibt sich eine große Chance der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen!

Etwas vereinfacht dargestellt geht es darum, dass das, was die Pflegeeltern im Zusammenleben mit dem traumatisierten Pflegekind als besondere oder irritierende Reaktionen, Auffälligkeiten und Probleme wahrnehmen, die notwendige psychische Überlebensstrategie des verängstigten Kindes angesichts seiner biografischen Erfahrungen darstellt.

Hierzu einige typische Beispiele aus Integrationsverläufen von Pflegekindern:

  • Bei verinnerlichten traumatischen Erfahrungen idealisiert das Kind die leiblichen Eltern und macht so aus verletzenden und bedrohlichen Eltern gute Eltern. Oder es verleugnet die traumatischen Erfahrungen und fantasiert, dass es von Anfang an in der Pflegefamilie gewesen bzw. von der Pflegemutter geboren worden sei. Die kindliche Idealisierung und Verleugnung kann nicht nur eine Reaktion darstellen auf die Verleugnung bei den leiblichen Eltern, sondern auch auf die Verleugnung bei den Pflegeeltern oder bei Professionellen, die z. B. Besuchkontakte empfehlen, als hätte das Kind nie etwas Zerstörerisches erlebt. Das Kind nutzt diesen Mechanismus, um starke innere Spannungen durch Idealisierung und Verleugnung zu reduzieren, kann diese so aber niemals auflösen.
  • Das traumatisierte Pflegekind verhält sich stark überangepasst „wie ein Diener“ in der Pflegefamilie und versucht, keinen Anlass zu Ärger bei den Pflegeeltern zu geben. So kann es erheblichen Bestrafungsängsten entfliehen.
  • Es ist apathisch oder emotional starr, kann keine Freude oder Ärger zeigen, weil es längst die Hoffnung in Beziehung zu Eltern aufgegeben hat und sich vor weiteren Enttäuschungen und Verletzungen schützen will.
  • Das kleine Kind fantasiert sich zu einem Kind, das eigentlich schon alleine leben kann und auf niemanden angewiesen ist, weil es in der Erfahrung für dieses Kind gefährlich war, als Kind von Eltern abhängig zu sein (Pseudoautonomie). Oder es fantasiert, allmächtig zu sein und kann auch so seine – bedrohlich erlebte – Abhängigkeit von Eltern leugnen bzw. die Ängste regulieren.
  • Es ist ein wuseliges, unruhiges, überaktives Kind, das neben der ständigen Betriebsamkeit auch ständig redet. So kann es seine immer wieder aktivierten Ängste in Schach halten.
  • Das traumatisierte Pflegekind gibt sich eine negative Identität: dass es falsch sei, dass es schuld sei, dass es böse sei und deshalb die traumatisierenden Verhaltensweisen der leiblichen Eltern „verdient“ habe. Dieses ist dann für das Kind die einzige Form, wie es überhaupt noch mit Eltern in Übereinstimmung stehen kann: dass es so schlecht ist, wie es von den Eltern behandelt wurde.
  • Ein Kind stellt offensichtlich nicht erfüllbare Forderungen an die Pflegeeltern (z.B. im Winter jetzt sofort ins Freibad gehen zu wollen). Es wird ungeheuer wütend, macht den Pflegeeltern schlimmste Vorwürfe, inszeniert damit versagende und frustrierende Eltern und kann so die aufgestaute Wut gegen diese richten.
  • Das traumatisierte Pflegekind stört fast systematisch besonders schöne und gemütliche Situationen, weil es viel zu schmerzhaft ist, genau in diesem Moment zu erfahren und zu erleben, wie sehr es in der Herkunftssozialisation verletzt wurde.
    Fallbeispiel: Ein fast verhungertes Kind stark übergewichtiger Herkunftseltern hat in der Pflegefamilie noch nach Jahren guter Versorgung die Angewohnheit, unabhängig von der Größe der Essensportion, einen Rest auf dem Teller zu lassen. Irgendwann fragt die Pflegemutter: „Wieso lässt Du eigentlich immer einen Rest auf Deinem Teller?“ und das Pflegekind antwortet: „Ich will mich nicht daran gewöhnen, dass immer genug da ist“.
  • Das sexuell missbrauchte Mädchen verhält sich in der Pflegefamilie dem Pflegevater gegenüber erotisierend. Es weist ein „Lolita-Syndrom“ auf. Insbesondere wenn die Pflegemutter das Haus verlässt, nähert sich das Mädchen dem Pflegevater, indem es auf seinen Schoß möchte und anfangen will, ihn erotisch motiviert zu streicheln. Es kann ein Erinnerungsauslöser angenommen werden: ein Mädchen ist alleine mit einem Vater oder Mann in der Wohnung, erwartet sexuelle Übergriffe und tritt die angstabwehrende Flucht nach vorne an. 
  • Das Kind bettelt oder stiehlt, weil es noch gar nicht glauben und verinnerlichen kann, dass es Eltern gibt, die ein Kind eigenverantwortlich gut und ausreichend versorgen.
  • Ein traumatisiertes Kind leugnet, dass es Angst hat. Es hält sich für unverletzbar oder für den stärksten Menschen der Welt. Es kann außerordentlich wütend gegen Sachen, Tiere oder Menschen agieren und in diesen Momenten überhaupt nicht die Perspektive des Opfers übernehmen; es wirkt brutal und gnadenlos. Es hat sich mit der Täterrolle identifiziert. „Wenn ich so mächtig und rücksichtslos bin wie die, die mir das angetan haben, kann mich nie wieder jemand so verletzten und demütigen“.

Der Versuch, hinter den auffälligen Reaktionen des Pflegekindes das aufgrund seiner Biografie Verstehbare zu erforschen, soll hier als „Konzept des guten Grundes“ definiert werden.

Der renommierte Bindungstheoretiker und Psychotherapeut Fonagy (2003) betont in Anlehnung an Winnicott, wie destruktiv, antisozial, selbstschädigend und abstoßend die aus traumatischen Erfahrungen resultierenden Folgen aggressiven Verhaltens auch sein mögen, man müsse sie ein Lebenszeichen und als einen Versuch verstehen, unter unerträglichen Bedingungen lebendig zu bleiben.

Fallbeispiel: Bei Aufnahme in der Pflegefamilie zeigt sich das misshandelte kleine Kind schmerzunempfindlich. Bei kleineren, aber durchaus schmerzhaften Unfällen oder Verletzungen lächelt es und tut so, als sei nichts gewesen und läuft weg. Irgendwann fängt es an, Verletzungen oder Schmerzen vorzutäuschen und reagiert fast wehleidig.

Wo liegt hier der „gute Grund“ im auffälligen Verhalten des Kindes? Wie kann das verstanden werden? Nun, es hat nicht nur keine Einfühlung und keinen Trost erfahren, wenn es von den leiblichen Eltern misshandelt wurde, sondern die Erwachsenen, von denen es in seiner Existenz abhängig war, waren die Quelle des Schmerzes und der Schutzlosigkeit. Es war für das Kind nicht nur sinnlos, Schmerzen zu zeigen, sondern zusätzlich gefährlich, weil es durch das Unverständnis der Eltern noch weiter verletzt worden wäre. Es ist eine kluge Überlebensstrategie, wenn es so tut, als hätte es keine Schmerzen. Noch klüger ist es, wenn es angesichts der ersten positiven Erfahrungen mit den Pflegeeltern so tut, als ob es Schmerzen hätte, ohne dass – äußerlich – dafür ein Auslöser besteht. Wenn es nämlich zu dem von dem Kind befürchteten Unverständnis der Pflegeeltern (im Sinn der Übertragung) käme, wäre es ja nicht ganz so schlimm, weil ja keine äußere Verletzung vorliegt. Mit diesem „Als-Ob“ kann es erst einmal ausprobieren wie es ist, wenn Eltern mit Einfühlung und Trost auf den Schmerz eines Kindes reagieren.

Das ist das Richtige an dem Auffälligen und ein Anfang der Auseinandersetzung des Kindes mit elterlichen Misshandlungserfahrungen.

3. Übertragung kindlicher traumatischer Erfahrungen in die Pflegefamilie als Chance zur psychischen Verarbeitung

In dem bereits erwähnten Buch „Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien" haben die Psychologen Nienstedt und Westermann eine richtungsweisende Theorie zur Integration von Pflegekindern in eine Ersatzfamilie in drei Phasen1 entwickelt, die durch den Verlauf unzähliger Praxisfälle bestätigt wurde. Nienstedt/Westermann zeigen dabei u.a. auf, dass es bei der Integration von Pflegekindern in Pflegefamilien zu einer Wiederholung früherer Beziehungsformen in der Übertragungsbeziehung kommt. Nach der anfänglichen Überanpassung des Kindes an die neue Situation (Pflegefamilie) werden bei dem Kind die „aus frühen traumatischen, verletzenden Erfahrungen resultierenden Überzeugungen, Ängste und Aggressionen“ sichtbar. „Das Kind erlebt die neue Situation durch die Brille seiner frühen Erfahrungen, die es auf die jetzige Situation überträgt, und die neuen Eltern werden perfekt mit den früheren elterlichen Bezugspersonen verwechselt“ (S. 67). Es kommt zum „... Wiederbeleben von Ängsten, heftigen Wünschen, Enttäuschungen, Ohnmacht, Wut und Zorn in der Übertragungsbeziehung zu elterlichen Objekten in Situationen, in denen sie entstanden sind – z.B. beim Anziehen, Waschen, Essen, Ins-Bett-gehen -, in denen jetzt aber andersartige Ausgänge möglich sind – z.B. befriedigend versorgt zu werden, Rücksicht zu erfahren, nicht überwältigt zu werden, geschützt zu sein“ (S. 73).  Dies ist den Forschungsergebnissen der Autoren zufolge therapeutisch wirksam und ermöglicht korrigierende Erfahrungen.

Die amerikanische Forscherin Herman (1993, S. 183 ff), die sich ausführlich in Theorie und Praxis mit den Folgen häuslicher, sexueller und politischer Gewalt in Kindheit und Erwachsenenalter befasst hat, zeigt die Voraussetzungen und Stationen der Genesung der traumatisierten kindlichen und erwachsenen Opfer auf. Erforderlich sei eine „heilende Beziehung“, in der Sicherheit geboten und „Erinnern, Trauern und Wiederanknüpfung“ möglich werde. Sie weist auch darauf hin, dass ein „nachempfindendes Verstehen“ für die Arbeit mit traumatisierten Kindern und Erwachsenen vonnöten sei.

3.1. Anforderungen an Pflegeeltern

In den bisherigen Ausführungen wurde gezeigt, wie sich traumatische Erfahrungen auf die kindliche Psyche auswirken und dass traumatisierte Kinder diese Erfahrungen auf ihre Pflegeeltern übertragen.

Wenn traumatisierte Pflegekinder in spezifischen Situationen die Pflegeeltern als sehr böse, schrecklich und bedrohlich erleben und entsprechend ihrer entwickelten Überlebensstrategien reagieren, bedeutet dies, dass die Pflegeeltern sich in einer quasitherapeutischen Situation befinden. Aus meiner Erfahrung kann man dieses bestreiten oder nicht annehmen; dennoch bleibt, dass das Pflegekind die Pflegeeltern zeitweise mit den traumatisierenden leiblichen Eltern verwechselt. Erforderlich ist in jedem Fall ein bedachter Umgang mit den Übertragungen seitens der Pflegeeltern.

Zunächst müssen Pflegeeltern eine realistische Einschätzung der traumatischen Erfahrungen des Kindes einnehmen und versuchen, sich diese aus Sicht des Alters des Kindes zum Zeitpunkt der Erfahrungen vorzustellen. Sie dürfen nicht verleugnen, dass es Kinder gibt, die bei bedrohlichen Erwachsenen gelebt haben und durch enorme Angst und Wut geprägt sind. Pflegeeltern müssen sich z.B. konkret vorstellen „Wie mag es einem Säugling oder Kleinkind bei chronisch alkoholkranken und sehr rücksichtslosen sowie einsichtslosen Eltern ergangen sein?“.

Pflegeeltern müssen versuchen zu verstehen, was an dem auffälligen Verhalten des Kindes angesichts seiner biografischen Erfahrungen erklärbar und nachvollziehbar ist. Dieses gilt es, dem Kind durch eine innere verstehende Haltung und wohlwollende Kommentare zu vermitteln, so dass hierüber eine Übereinstimmung mit dem Kind erzielt werden kann. In diesem Moment ist das Kind dann nicht mehr das verrückte, unmögliche Kind, sondern ein Kind, das angesichts seiner verinnerlichten verletzenden Erfahrungen verstehbar reagiert hat. Dabei ist klar, dass es nicht das Ziel ist, dass ein Kind stundenlang die Pflegeeltern anschreit, wenn es nach dem Spielen im Garten die dreckigen Gummistiefel ausziehen soll – aber auf der Basis des Verstehens und Annehmens des Kindes können neue Lösungen gefunden werden. Und es hilft dem Kind, wenn man eine hoffnungsvolle Haltung einnimmt „wir schaffen das schon“. Verständlich am Verhalten des Kindes im zuvor genannten Beispiel wäre, dass ein misshandeltes Kind aus großen Ängsten vor Eltern es ablehnt, sich überhaupt irgendetwas von Eltern sagen zu lassen bzw. sich überhaupt auf eine Beziehung als Kind bei Eltern einzulassen.

Es ist für Pflegeeltern wichtig, sich von dem Kind „an die Hand nehmen zu lassen“. Dies bedeutet, dass jedes Kind seine eigene Art und Weise sowie sein eigenes Tempo im Integrationsverlauf hat. Es ist wichtig, das Kind dort abzuholen, wo es steht und seinen Weg der Korrektur traumatischer Erfahrungen mitzugehen. Es hilft dabei nicht, im Wesentlichen pädagogisch auf das Kind einzuwirken oder es gleich mit einer Behandlungsbatterie aus Ergotherapie, Logopädie, Heilpädagogik zu überfrachten.

Bei Pflegeeltern entstehen aufgrund der Übertragungen des Kindes Gegenübertragungsreaktionen. In spezifischen Übertragungssituationen können bei Pflegeeltern ungeheure Wut, aber auch tiefe Trauer, Sprachlosigkeit oder Verzweiflung ausgelöst werden. Sie können sich auch von dem Kind stark abgelehnt oder „provoziert“ fühlen. Je mehr die Pflegeeltern aber vom Übertragungsgeschehen des Kindes verstehen und die Zusammenhänge erkennen, desto besser gelingt es ihnen, mit Gegenübertragungsgefühlen entspannter umzugehen oder sie gezielt zu nutzen, anstatt sie unreflektiert auszudrücken.

Manchmal werden von Pflegekindern auch eigene unverarbeitete Kindheitsverletzungen bei den Pflegeeltern berührt. Dies bietet neben Irritation und Aufwühlung auch Chancen. Nicht selten berichten Pflegeeltern, dass für sie mit der Integration eines traumatisierten Pflegekindes auch wichtige persönliche Erfahrungen einhergegangen sind.

Wenn Pflegeeltern aufgrund massiven Übertragungsgeschehens erschöpft sind, können sie manchmal das Erreichte mit dem Kind nicht mehr richtig einschätzen und sehen die Zukunft für das Kind und sich „schwarz“. Dies ist häufig ein Hinweis, dass die Pflegeeltern für die Gegenwart des Geschehens mit dem Pflegekind keine Lösung gefunden haben und nicht verstehen, was in dem Kind vorgeht. Es kann durch entsprechende Aufklärung und Beratung eine Erleichterung und Entspannung geschaffen werden, insbesondere wenn Pflegeeltern das Übertragungsgeschehen vorher persönlich genommen haben.

Zentral für den Aufarbeitungsprozess traumatischer Erfahrungen ist, dass das Kind neben der inneren Übereinstimmung mit den Pflegeeltern deren volle Solidarität durch Parteilichkeit erfährt. Denn ein Kind muss sich von traumatisierenden Erwachsenen, die so mit einem Kind umgegangen sind, so gefährlich waren und dem Kind so große Angst gemacht haben, kritisch distanzieren können. Ein Kind, das aufgrund traumatischer Erfahrungen über Angst an leibliche Eltern gebunden war, kann sich nur über Empörung und Wut aus diesen pathologischen Beziehungsstrukturen lösen.

In der Praxis des Pflegekinderwesens werden im Zusammenhang mit der Diskussion zum Thema „Biografieklärung“ des Pflegekindes immer wieder Fragen gestellt wie: „Darf ein traumatisiertes Kind seine leiblichen Eltern hassen und dies äußern? Wie reagieren Pflegeeltern richtig, wenn das Kind sich negativ über seine leiblichen Eltern äußert?“

Fallbeispiel: Eine leibliche Mutter ist alkoholkrank und reagiert nicht nur in der Beziehung zu den Kindern, sondern überhaupt in sozialen Kontakten sehr gereizt und wütend. Wenn sie abends trinken geht, sperrt sie die Kinder in ein Zimmer ein. Häufig kommen verschiedene alkoholkranke Männer in die Wohnung, und es wird in rücksichtsloser Weise laut „gefeiert“ und  getrunken. Das ältere Kind verhält sich wie eine Mutter für das jüngere Kind. Die Mutter schreit die Kinder oft laut an und schlägt sie. Polizeieinsätze kommen bis zur Herausnahme der Kinder wiederholt vor. In ihren Pflegefamilien zeigen beide Kinder typische Auffälligkeiten traumatisierter Kinder (Distanzlosigkeit, massive Angstzustände, tiefes Misstrauen, auffällige Übertragungsreaktionen). Das ältere Kind drängt in der Pflegefamilie darauf, Sex mit den Pflegeeltern zu machen und stöhnt dabei. Die Pflegemütter der beiden Kinder haben im weiteren Integrationsverlauf den Kindern erklärt, dass die leibliche Mutter noch zu jung gewesen sei, um sich um Kinder kümmern zu können. Sie hätten den Kindern trotz bekannter Informationen über die Vernachlässigung und Misshandlung nichts anderes antworten und erklären wollen, weil man leibliche Eltern nicht „schlecht machen“ solle.

Fachlich gibt es in der Tat keinen Grund dafür, dass Pflegeeltern über leibliche Eltern „herziehen“ und sie von sich aus herabsetzen. Es gibt aber fachlich auch keinen Grund, leibliche Eltern „gut zu machen“ und die Realität vor dem Kind zu leugnen. Im Erleben des Kindes war diese „Mutter“ eine böse und gefährliche Frau und wenn wir ein traumatisiertes Kind nicht verrückt machen wollen, muss das auch dem Kind gegenüber bestätigt werden. Schließlich ist es Ziel des Integrationsprozesses, dass das Kind einen Zugang zu seiner Realität findet und darin von seinen Pflegeeltern verstanden und unterstützt wird, um sich aus pathologischen Beziehungen zu lösen und Mitglied einer normalen Welt zu  werden, in der Kinder nicht chronisch vernachlässigt oder misshandelt werden – wo eben Bedrohliches als Bedrohliches und Böses als Böses angesehen und benannt werden kann.

Dieser Aufarbeitungs- und Gesundungsprozess eines traumatisierten Pflegekindes im Integrationsverlauf in der Pflegefamilie kann nur unter bestimmten Rahmenbedingungen gelingen. So wird er zum Beispiel durch laufende Besuchskontakte mit leiblichen Eltern in unverantwortlicher Weise gestört. Eine notwendige kritische Distanzierung von traumatisierenden Erwachsenen ist so kaum möglich. In diesem Setting kommen Besuchskontakte fast einer Retraumatisierung des Kindes gleich.

Für Pflegeeltern traumatisierter Kinder ist die praktische Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie, des Pflegekinderwesens und der Bindungsforschung von zentraler Bedeutung. Sie sollten bereit sein, Übertragungsbeziehungen zu verstehen und anzunehmen und den traumatisierten Kindern nicht mit Anpassungsdruck entgegentreten. Sie müssen wissen, dass allein gute und normale Erfahrungen mit Pflegeeltern in der Regel nicht ausreichen, um dem Kind zu helfen, seine traumatischen Erfahrungen zu überwinden. Bei traumatisierten Kindern sind mit Übertragungen einhergehende Ängste und Aggressionen immer ein wichtiges Thema im Integrationsprozess. Wenn ein Kind in der Anpassung verharrt und seine traumatischen Erfahrungen verleugnen muss, droht ein späteres Scheitern des Pflegeverhältnisses.

Pflegeeltern müssen sich auf Rollenspiele der Pflegekinder einlassen, in denen sie z.B. in Täter-Opfer-Spielen etwas über ihre Ängste und traumatischen Erfahrungen zeigen. Wichtig ist auch das Zulassen spielerischer Aggressionen, um dem Kind einen angstfreieren Umgang mit Aggressionen in Beziehungen zu Eltern zu ermöglichen. Pflegeeltern sollten sich für die Ängste des Kindes interessieren, sie nicht nur beruhigen, sondern auch nachfragen im Konjunktiv „Was könnte denn das Monster machen?“. Erfahrene und geschulte Pflegeeltern antworten dem Kind nicht immer sofort, sondern fragen erst einmal nach bzw. explorieren. Damit bieten Pflegeeltern dem traumatisierten Kind einen „Übertragungsraum“. Sie müssen helfen, dass das Kind, egal wie es sich verhält oder fühlt, mit ihnen in Übereinstimmung kommen kann. Ansonsten fühlt sich das Kind allein, unverstanden und verloren.

Oft stoßen Pflegeeltern in Bezug auf ihre Umgehensweise mit dem traumatisierten Pflegekind auf das Unverständnis Dritter und müssen sich und ihren Weg mit dem Pflegekind offensiv vertreten; sowohl in privaten Beziehungen als auch gegenüber Professionellen. Dieses fällt umso schwerer, wenn – wie es immer wieder vorkommt - die Ursachen der Schwierigkeiten von Professionellen nicht in der traumatischen Biografie des Pflegekindes, sondern in der Familiendynamik der Pflegefamilie gesehen werden. Manchmal wird sogar angesichts des Unverständnisses versucht, Pflegeeltern selbst zu pathologisieren.

Wer ein traumatisiertes Kind aufnimmt, steht in der Pflicht, sich frühzeitig differenziert fachkundig zu machen. Wäre das aufgenommene Kind chronisch körperlich erkrankt, würde man sich auch ausgiebig mit Behandlungsmethoden und -angeboten kritisch auseinandersetzen müssen. Hilfreich ist es, wenn die Pflegeeltern untereinander im Austausch stehen über die Erfahrungen mit dem Pflegekind und ein „gutes Team“ bilden. Kein Pflegeelternpaar kann vorher gut einschätzen, was mit der Aufnahme eines Pflegekindes auf sie zukommt – viele Pflegeeltern sagen im Nachhinein, dass das auch besser sei. Auch wenn für das Gelingen der Sozialisation eines traumatisierten Pflegekindes viel Fachwissen seitens der Pflegeeltern nötig ist, steht dennoch fest, dass sie sicher nicht zwangsläufig der Berufsgruppe der Pädagogen und Psychologen entstammen müssen, um ihre Aufgabe gut erfüllen zu können.

3.2. Welche Unterstützung brauchen Pflegeeltern

Die Jugendhilfe muss Rahmenbedingungen schaffen, die einen ungestörten Ablauf des Integrationsprozesses des traumatisierten Kindes in die Pflegefamilie gewährleisten.

Pflegeeltern bedürfen der ausreichenden Information über die biografischen Erfahrungen des Kindes und einer qualifizierten Beratung und Fortbildung.

Pflegeeltern müssen finanzielle Mittel zur Weiterbildung zur Verfügung gestellt werden und bei Bedarf auch zur Ermöglichung einer intensiveren Beratung über das Angebot der Jugendhilfe hinaus. In manchen Fällen ist es notwendig, dass Pflegeeltern eine fundierte Diagnostik des Kindes einholen. Auch dieses muss finanziell durch die Jugendhilfe ermöglicht werden.

Ein traumatisiertes Pflegekind bedarf nicht per se einer kinderpsychotherapeutischen Behandlung. Wenn in der Pflegefamilie der Integrationsprozess günstig verläuft, ist eine Psychotherapie nicht erforderlich, manchmal sogar störend. Eine Psychotherapie für das Pflegekind ist jedoch insbesondere dann sinnvoll, wenn das Pflegekind aus unterschiedlichsten Gründen bestimmte Themen nicht mit den Pflegeeltern bearbeiten kann oder die Pflegeeltern vollkommen erschöpft sind.

Wichtig für Pflegeeltern ist der Zusammenschluss mit anderen Pflegeeltern in Pflegeelternvereinen, zum einen zum Erfahrungsaustausch, zum anderen, um nicht alleine mit einem schwierigen Integrationsverlauf dazustehen.

4. Bindungs- versus Beziehungserfahrungen traumatisierter Pflegekinder

Es ist in der Arbeit für Pflegekinder unerlässlich, die bindungstheoretischen Erkenntnisse zu desorganisiert-chaotischen Bindungsrepräsentationen sowie traumatisch bedingten Bindungsstörungen mit den Erkenntnissen der Psychotraumatologie und zu den Integrationsverläufen traumatisierter Pflegekinder in der Pflegefamilie zu verknüpfen. Deshalb sollte von traumatischen Bindungs- und Beziehungserfahrungen gesprochen werden.

Ich erlebe in meiner therapeutischen und gutachtlichen Arbeit im Bereich des Pflegekinderwesens immer wieder, dass der Bindungsaufbau eines Pflegekindes zu Pflegeeltern (wie Aufgabe der Distanzlosigkeit des Kindes oder pflegeelterliche Feinfühligkeit; Aufenthaltszeit in der Pflegefamilie) zu stark und der notwendige Aufarbeitungsprozess traumatischer Erfahrungen mittels Übertragung zu wenig berücksichtigt wird.

Auch Fragen zu Besuchskontakten und Rückführungen dürfen nicht ausschließlich bindungstheoretisch geprüft werden, sondern es müssen auch die konkreten hoch angstbesetzten Beziehungserfahrungen traumatisierter Kinder und deren Aufarbeitungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.

Es gibt Pflegekinder, die zwar auf der äußeren Ebene die Pflegeeltern als Mama und Papa annehmen und sich gut versorgt und geschützt fühlen; und dennoch werden die Beziehungen durch traumatisch bedingte Ängste in Übertragungen durch die Kinder immer wieder so verstellt, dass sie die Pflegeeltern auf der inneren Ebene noch nicht zu ihren Eltern machen können.

 

Literatur

Bohleber, W. (2004). Adoleszenz, Identität und Trauma. In: Streeck-Fischer, A. (Hg.): Adoleszenz – Bindung – Destruktivität. Stuttgart: Klett-Cotta.

Dornes, M. (2002). Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre, 6. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer TB, 6.

Fischer, G. & Riedesser, P. (1999). Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2. Auflage. München; Basel: Reinhardt.

Fonagy, P. (2003). Das Versagen der Mentalisierung und die Arbeit des Negativen. Manuskript zum Vortrag. Jahrestagung DPG 2003. Frankfurt.

Herman, J. L. (1993). Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler.

Hirsch, M. (2004). Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie. Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart: Schattauer.

Nienstedt, M. & Westermann, A. (1998). Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien. 5. Auflage, Münster: Votum.

van der Kolk, B.A. (1998). Zur Psychologie und Psychobiologie von Kindheitstraumata (Developmental Trauma). In: Streeck-Fischer, A. (Hg.): Adoleszenz und Trauma. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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1(1. Phase) Anpassung und Annahme; (2. Phase) Wiederholung früherer Beziehungsformen in der Übertragungsbeziehung; (3. Phase) Entwicklung persönlicher Beziehungen durch regressive Beziehungsformen.

zum Autor
Hardenberg, Oliver,
Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Gerichtsgutachter und Supervisor, berufliche Erfahrungen mit chronisch vernachlässigten, misshandelten und missbrauchten Kindern seit 1992, Referent im Adoptiv- und Pflegekinderwesen.

 

 

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