Inhalt: 1. Was ist Erziehungsunfähigkeit? 2. Was ist ein Trauma? 3. Welche Erfahrungen können als Trauma bezeichnet werden? 4. Was sind die Folgen von Traumatisierung? Exkurs 5. Wie kann diagnostiziert werden, dass ein Kind traumatisiert wurde? 6. Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien 7. Was tun? Abschließende Bemerkung
Dieser Text richtet sich vor allem an Euch Pflegeeltern, insbesondere an die vielen, die sich auf das große Abenteuer eingelassen haben, ein oder mehrere traumatisierte Kinder in ihre Familie aufzunehmen. Ich selber gehöre auch zu dieser Gruppe abenteuerlustiger Menschen und weiß daher gut, was es bedeutet, sich mit den Folgen von Traumatisierungen auseinandersetzen zu müssen. Ich habe, gemeinsam mit meinem Lebensgefährten, im Laufe von 9 Jahren 6 Pflegekinder aufgenommen, die meisten schwer traumatisiert, und uns war zu Beginn unserer abenteuerlichen Reise nur sehr vage klar, was da wohl auf uns und unsere leiblichen Kinder zukommt. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich es mir damals nicht so schwierig vorgestellt habe, obwohl ich bereits seit Jahren Diplom Psychologin war und auch auf einige pädagogische Erfahrung zurückblicken konnte. Ich dachte, ausreichend Liebe, ein gutes und stabiles Zuhause, die zuverlässige Befriedigung der Grundbedürfnisse und gute Förderung würden die seelischen Wunden der Kinder mit der Zeit heilen lassen. Doch dem war nicht so, und ich war immer wieder ratlos, wenn mich die Kinder trotz aller Bemühungen, ihnen zu geben, was sie brauchten, immer wieder an meine Grenzen brachten. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach Erklärungen und neuen Wegen, las etliche Bücher, besuchte verschiedene Seminare und sprach mit vielen Pflegeeltern. Wichtige Lehrmeister in meinem Entwicklungsprozess waren aber auch meine Kinder. Zeigten sie mir doch ganz ungefiltert, welche meiner neuen Erkenntnisse wirklich hilfreich und umsetzbar waren und welche nur „graue Theorie“. Dieser Text hier ist eine Zusammenfassung dessen, was ich gelernt, erfahren und verstanden habe und was mir persönlich im Zusammenleben mit den Kindern immer wieder die Möglichkeit gab, inne zu halten, zu reflektieren und einen neuen Versuch zu starten, bei der nächsten Gelegenheit angemessener und mit mehr emotionalem Abstand auf die Besonderheiten der Kinder zu reagieren. Dieses Wissen möchte ich nun mit Euch Interessierten teilen, in der Hoffnung, dass es auch für Euch die eine oder andere Information enthält, die für das Verständnis von und den Umgang mit Euren Kindern hilfreich ist. (Bitte entschuldigt, wenn ich Zitate und wissenschaftliche Ergebnisse ohne genaue Zuordnung zu bestimmten Büchern aufführe. Beim Notieren der Informationen wusste ich noch nicht, dass ich diesen Text einmal schreiben werde und mein heutiger turbulenter Alltag erlaubt mir keine langwierige Recherche.)
Beginnen möchte ich mit einem Blick auf die Herkunft der Kinder, damit für uns vorstellbarer wird, welchen Lebenssituationen die meisten Pflegekinder ausgesetzt waren, bevor sie aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen wurden. Viele Kinder haben lange Jahre mit ihren erziehungsunfähigen Eltern verbracht und dabei Erfahrungen machen müssen, die fast unvorstellbar sind. Eine moralische Verurteilung der leiblichen Eltern bringt uns nicht weiter, aber das Verstehen dessen, warum sie so geworden sind und vor allem, wie sie sind /waren, kann uns helfen, auch unsere Kinder besser zu verstehen.
1. Was ist Erziehungsunfähigkeit?
Erziehungsunfähige Eltern sind zu 95% selber traumatisierte Kinder gewesen, die keine Hilfe erhalten haben. Daraus sind z.T. schwere Persönlichkeitsstörungen entstanden. Im Rahmen einer 6-stufigen Schwere-Skala von psychischen Problemen/Störungen, liegen die schweren Persönlichkeitsstörungen auf Platz 4. Manche erziehungsunfähige Eltern haben aber auch “nur” einfache Persönlichkeitsstörungen (3. Platz) oder sogar psychotische Störungen (Platz 5) oder hirnorganische Syndrome (Platz 6).
Die Skala beinhaltet: 1. Neurosen: Die Betroffenen haben einen normalen Realitätsbezug und nur ein isoliertes Einzelproblem (z.B. Angst vor beruflichem Misserfolg, Phobien, eine REAKTIVE Depression, Konfliktscheu in bestimmten Situationen etc.). Neurotiker sind wir vermutlich alle irgendwie ;-)))
2. Psychosomatische Störungen: Wenn eine (schwere) neurotische Störung in körperliche Prozesse umschlägt und z.B. Essstörungen, Asthma, Migräne, Herz-Kreislaufprobleme, Lähmungserscheinungen u.ä. hervorbringt. Das kennen sicher auch einige von uns....
3. Persönlichkeitsstörungen: Die gesamte Persönlichkeit ist von dem (neurotischen) Problem erfasst, d.h. jemand hat nicht nur Angst, beruflich zu versagen, sondern ist insgesamt sehr ängstlich und misserfolgsorientiert, oder reagiert auf jede kleine Schwierigkeit immer depressiv, oder ist total geltungssüchtig oder reagiert ständig aggressiv etc. Auch Suchtverhalten gehört hierher. Bei starker Ausprägung kann hier die Erziehungsunfähigkeit beginnen.
Die Persönlichkeitsstörungen werden unterteilt in: a) Schizoide (sie leben stark in der eigenen inneren Welt, z.B. sozial scheue Eigenbrötler oder Depressive),
b) Hysterische (leben stark nach außen orientiert, z.B. extrem geltungssüchtige oder aggressive Menschen)
c) Narzisstische (drehen sich selbstverliebt um sich selbst und möchten von allen geliebt werden, verdrehen gern die Realität, um gut dazustehen)
4. Schwere Persönlichkeitsstörungen: Das sind die "typischen" erziehungsunfähigen Eltern. Sie haben einige gemeinsame Merkmale , die bei allen Untertypen zu beobachten sind:
- Primitives Beziehungserleben, das schnell zwischen z.T. gewalttätigem Streit und unreflektierter "Versöhnung" schwankt (gestern hat der Mann die Frau verprügelt, und heute sitzen sie zusammen am Tisch und reden, als sei nichts gewesen...und finden das ganz normal);
- impulsives, primitives gewalttätiges Verhalten;
- fehlende Reaktion auf unhaltbare Zustände (z.B. sexueller Missbrauch von Kindern wird als "ganz normal" empfunden);
- total unreflektiert gegenüber eigenem Verhalten, eigenen Fähigkeiten (z.B. Größenphantasien bei stark eingeschränkten Fähigkeiten), der eigenen Geschichte (z.B. Idealisierung des misshandelnden Vaters);
- keine Schuldgefühle bei Fehlverhalten (z.B. Gewaltausübung);
Häufige Merkmale solcher Familien sind: Vermüllung, Verwahrlosung, bizarre Haushaltsführungstechniken, ständige Fehlzeiten in Kindergarten und Schule, extreme Tierhaltung (z.B. mehrere Kampfhunde oder bissige Ratten oder Giftschlangen o.ä. beim Kind), mangelnde ärztliche Versorgung, selbstverletzendes Verhalten ....und das alles wird als völlig normal wahrgenommen.
Die Untertypen der schweren Persönlichkeitsstörungen unterscheiden sich folgendermaßen: a) Borderline-Störungen: Diese Leute pendeln ständig zwischen zwei individuellen Polen, die aber relativ stabil sind (d.h., sie überschreiten ihre Pole nicht und fallen z.B. nicht in eine Psychose). Sie sind gekennzeichnet durch: Schwarz-Weiß-Denken, Gut-Böse-Denken (jemand ist entweder gut oder böse, es gibt keine Abstufungen), Wechseln zwischen Idealisieren und Verteufeln von Beziehungen /Beziehungspartnern, starke Stimmungsschwankungen ohne äußeren Anlass (die dann oft an den Kindern ausgelassen werden, auch im Sinne von "Du bist mein Engel...du bist ein Teufel"), sie wirken in guten Momenten sehr charmant, sind in schlechten Momenten aber unbeherrscht und gewalttätig und sehen oft die Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und den Folgen nicht, z.B. schlagen sie das Kind, und wenn es weint, fragen sie: "Was hast du denn?"
b) Schwere narzisstische Störungen: Kommen häufiger bei Männern vor und haben ihre Ursache in schweren Kränkungen in der Kindheit. Diese Leute kehren die fehlenden Liebeserfahrungen in der Kindheit in pathologische Selbstliebe und Größenphantasien um. Sie sind beziehungsunfähig, alle ihre Beziehungen sind kalt und entleert. Nach außen wirken sie manchmal durchaus großartig, aber intern herrscht Beziehungslosigkeit (z.B. der Lehrer, der seine eigenen Kinder misshandelt und drillt, aber in der Schule als toller Pädagoge gilt). Meist können sie ihre Beziehungspartner gar nicht beschreiben, haben kein inneres Bild von ihnen. Sie sind gefühllos (oft auch körperlich) und können auch die Gefühle anderer nicht wahrnehmen (z.B. die Angst und den Schmerz ihres misshandelten Kindes). Sie können sehr gewalttätig sein, weil sie sich mit dem Aggressor ihrer Kindheit völlig identifiziert haben und das Opfersein total abgespalten haben. Das Gute in ihnen ist zerstört, und sie wollen auch das Gute in ihren Kindern zerstören, weil es sie an ihren einen Schmerz erinnert. "Wenn ich nie wieder schwach bin, kann mir keiner mehr was tun" (und vielleicht auch..."Wenn ich dich solange schlage, bis du so wirst wie ich, dann kann auch dir keiner mehr was tun"??)
c) Infantile Störungen: Kommt vermehrt bei Frauen vor. Diese wirken unreif und kindlich (bei normaler Intelligenz), versagen meist schulisch und beruflich. Diese Frauen neigen dazu, sich gewalttätige Partner auszusuchen und verharren dann in der Position des geschundenen, hilflosen Kindes. Sie übernehmen keine Verantwortung für sich und ihre Kinder und sehen in ihren Kindern eher Gleichaltrige. Sie können zwar sagen, was Kinder brauchen, aber es nicht umsetzen, geben.
5. Psychosen: Menschen mit psychotischen Störungen haben keinen Realitätsbezug mehr. Sie haben wahnhafte Ideen, z.B. denken sie, dass ihre Gedanken von fremden Mächten gesteuert werden, oder dass alles, was in der Welt so vor sich geht, nur ihretwegen geschieht, oder dass sie verfolgt werden, oder dass sie Napoleon oder sonst wer sind, oder dass ihre Kinder Aliens sind o.ä. Manche haben auch optische und/oder akustische und/ oder taktile Halluzinationen. Sie sind durch Argumente nicht erreichbar und verarbeiten alle Infos entsprechend ihrem jeweiligen Wahnsystem. Sie können gewalttätig sein, das ist aber kein Leitsymptom.
6. Hirnorganische Syndrome und schwere geistige Behinderungen: Solche Eltern sind aufgrund ihrer mangelnden geistigen Fähigkeiten bzw. fehlender Handlungsmöglichkeiten (z.B. Zustand nach schwerem Schlaganfall) nicht (mehr) in der Lage, ihre Kinder selber zu erziehen. Diese Leute haben nicht unbedingt selber traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht, sind aber aufgrund ihres Zustands erziehungsunfähig.
Beim Lesen werdet Ihr sicher im Geiste versucht haben die Eltern eurer Kinder einzuordnen. Ich fand es ganz interessant, solche eine Kategorisierung vorgestellt zu bekommen. "Unsere" Eltern passen tatsächlich prima rein.....Aber....zur genauen Diagnostik von Erziehungsunfähigkeit braucht es erfahrene Gutachter, da die Übergänge zwischen den "Stufen" und auch den Untertypen fließend sind.
2. Was ist ein Trauma?
Wie wird Trauma definiert? Was genau ist darunter zu verstehen, wenn Eltern ihr Kind traumatisieren? Ich nenne hier nur drei der vielen wissenschaftlichen Definitionen, aber es zielen alle in die gleiche Richtung.
1. Nach Nienstedt & Westermann: "Von traumatischen Erfahrungen sprechen wir dann, wenn von Eltern die elementaren Grundbedürfnisse des Kindes nicht wahrgenommen und respektiert werden und wenn das Kind von seinen Eltern überwältigt wird und sie dadurch als Schutzobjekt verliert."
2. Nach Scheuerer-Englisch: "Es handelt sich um eine einmalige oder fortdauernde Erfahrung,
- die zu einer psychischen Verletzung führt und
- die für das Kind überwältigend und mit seinen physischen und psychischen Möglichkeiten nicht kontrollierbar ist und
- die Todesangst und Angst vor Vernichtung des physischen Selbst auslöst und
- bei der das Kind in der Situation auf niemanden zurückgreifen kann, bei dem es Schutz oder Hilfe erfährt."
D.h., als Trauma werden nur solche Erfahrungen bezeichnet, die alle Merkmale erfüllen. Erfahrungen, bei denen ein oder mehrere Merkmale fehlen, sind schreckliche oder schlimme Erlebnisse, die sicher auch ihre Spuren hinterlassen können, sie wirken aber nicht im eigentlichen Wortsinn traumatisierend.
Ähnlich drücken es auch Fischer & Riedesser aus: "Ein psychisches Trauma ist ein vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einher geht und so eine DAUERHAFTE Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt."
3. Welche Erfahrungen können als Trauma bezeichnet werden?
Die Reihenfolge dieser Aufzählung ist beliebig und sagt nichts über den „Schweregrad” aus!
- nichts zu essen und /oder zu trinken bekommen, hungern und/oder dursten müssen
- bei großen Ängsten nicht beruhigt werden (z.B. wenn das angstvoll weinende Kleinkind in ein dunkles Zimmer gesperrt wird und dort völlig allein seinen Ängsten ausgeliefert ist und von ihnen überwältigt wird)
- wenn auf Angstäußerungen des Kindes mit körperlicher Gewalt reagiert wird
- wenn Babys/Kleinkinder ohne Beziehungsaufnahme rein mechanisch versorgt werden
- völlig allein gelassen werden, ggf. sogar eingesperrt werden
- das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern (gilt übrigens juristisch als Kindesmisshandlung)
- Sexuelle Misshandlung, Missbrauch
- Gewalttätige Übergriffe, Misshandlung, Folter
- Kriminelle Handlungen (Kidnapping, Überfall, Mord etc.)
- wenn das Kind als Erwachsener behandelt (z.B. als Partnerersatz) und damit total
überfordert wird
- wenn das Kind das Agieren der Eltern unter Alkohol- bzw. Drogeneinfluss bzw. im
Entzug erlebt und seine eigenen Bedürfnisse dabei total übersehen werden
- Wenn das Kind in den Wahnwelten von psychotischen Eltern leben muss
- wenn bedrohliche Tiere in Haushalt leben, z.B. bissige Kampfhunde, vor denen das Kind nicht von den Eltern geschützt wird
- Kriegshandlungen
- Natur- u. Verkehrskatastrophen, z.B. Erdbeben, Tornados, Feuer, Überschwemmungen, Flugzeug-/Schiffsunglücke
- schwere Unfälle, lebensbedrohliche Krankheiten,
- invasive medizinische Eingriffe (Intensivstation)
- plötzlicher Verlust vertrauter Menschen u. sozialer Sicherheit
Bei dieser Aufzählung habt Ihr sicher das eine oder andere entdeckt, das aus der Geschichte Eurer Kinder bekannt ist oder zumindest vermutet wird. Wenn Ihr nicht sicher seid, ob euer Kind in Laufe seiner Geschichte traumatisiert wurde, dann gibt es eine Faustregel:
Zeigt das Kind immer wieder Gefühle intensiver Angst, massiver Hilflosigkeit und/oder extremer Wut, ODER löst es diese Gefühle bei anderen Menschen aus, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine Traumatisierung erfolgt ist.
4. Was sind die Folgen von Traumatisierung?
Akute Folge von Traumatisierung sind zunächst Gefühle extremer Angst und Hilflosigkeit und das Erleben von völligem Kontrollverlust, da die extreme Überstimulierung aller Sinne die gewöhnlichen Bewältigungsstrategien total überfordert. Dies führt zu einem massiven emotionalen Schock, der begleitet ist von Verwirrung, einer tiefen Erschütterung der kognitiven Funktionen, der Affektsteuerung und der Körperregulation. Langfristig führen Traumatisierungen zu dauerhaften substantiellen und psychischen Schäden.
Recht bekannt ist die sog. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die sich zum einen in körperlichen Symptomen niederschlägt, wie z.B.
- Herzrasen, Atemnot, Beklemmungen
- Unruhe, Schlaflosigkeit, übersteigerte Wachsamkeit
- Konzentrationsstörungen
- Taubheitsgefühle, Schmerzen, Starreempfindungen
- Wahrnehmungsstörungen
und zum anderen zu psychischen Auffälligkeiten führt. Diese können grob in zwei Symptom-Kategorien unterteilt werden: a) Symptome, die eine erzwungene Nähe zum Trauma herstellen:
- Alpträume (Tipp: Das Kind die Träume nicht erzählen lassen, denn dies erhöht die Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens, sondern lieber aufschreiben oder malen lassen und den Zettel anschließend in einem kleinen Ritual zerreißen, verbrennen, wegschließen o.ä. mit dem begleitenden Kommentar, dass dieser Traum nun nicht mehr zurück kommen kann. Bei kleinen Kindern kann auch ein selbstgebastelter Traumfänger gute Dienste leisten)
- Panikattacken, überwältigende Ängste
- Zwanghaftes Erinnern
- Flashbacks (s.u.)
- Depression
b) Symptome, die Nähe zum Trauma vermeiden wollen:
- phobische Vermeidung von Ereignis-„Triggern“ (s.u.)
- emotionale Empfindungslosigkeit
- Alkohol-, Drogen-, Medikamentenmissbrauch
- Dissoziative Phänomene (s.u.)
- Zwangsstörungen
- Ich-Fragmentierung, Depersonalisation, Derealisation (man steht quasi neben sich, alles ist wie ein Film, irreal, ohne Bezug zu einem selbst)
Darüber hinaus zeigen sich als weitere Folge von Traumatisierungen auch Auffälligkeiten im Sozialverhalten, von denen nahezu jedes Pflegekind einige zeigt:
- Bindungsstörungen (Bindung nennt man die Beziehung des Kindes zur erwachsenen Bezugsperson, wenn es sich geschützt fühlt und tiefes Vertrauen hat. Sie ist die Folge einer positiven Abhängigkeit. Es gibt allerdings auch sog. Angst-Bindungen, welche oft durch unterwürfiges Verhalten gekennzeichnet sind und auf einer negativen Abhängigkeit basieren. Den Bezug zu allen Personen, zu denen keine solch enge, und, im positiven Fall, vertrauensvolle Bindung besteht, nennt man „Beziehung“.)
- Beziehungsstörungen
- Kontaktstörungen
- Sprachstörungen
- mangelnde Fähigkeit der Selbststeuerung
- mangelnde Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub, Leben nur im Augenblick, keine Zeitvorstellung
- mangelnde Entwicklung des Gewissens, Unkenntnis sozialen Normen und Grenzen
- mangelnde Fähigkeit, aus sozialen Erfahrungen zu lernen, oft auch schulische Lern- und Leistungsprobleme, Teilleistungsschwächen
- mangelnde Frustrationstoleranz und Ausdauer
- mangelnde Fähigkeit mit Kritik umzugehen (z.B. alles abstreiten bzw. lügen oder Besserung geloben und trotzdem das kritisierte Fehlverhalten sofort wiederholen)
- starkes Bedürfnis im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen (egal, ob positiv oder negativ)
- Drang, andere (aus Selbstschutz) zu steuern und zu beherrschen
- diverse Verhaltensauffälligkeiten, die ihre Ursache in sog. Abwehrmechanismen haben.
Abwehrmechanismen sind Überlebensstrategien traumatisierter Kinder. Traumata lösen immer schreckliche Ängste aus, die beständige Begleiter des Kindes bleiben. Da kein Mensch (über-)leben kann, wenn er ständig voller schrecklicher Angst ist, müssen die Kinder ihre Ängste abwehren. Sie entwickeln unbewusste Abwehrmechanismen, die dann als "auffälliges Verhalten" beobachtet werden können. Folgende können besonders häufig beobachtet werden:
- Pseudo-Autonomie (Kinder die schon früh für sich selber oder sogar Geschwister
sorgen, sich für unabhängig und quasi erwachsen halten und keine Bindung (!) mehr eingehen wollen, d.h. nie wieder abhängig sein wollen)
- übermäßige Bewegung / Hyperaktivität (diese Kinder sind ständig "auf der Flucht" vor ihren Ängsten und versuchen diese durch Zappeligkeit und ständige "Aktion" zu betäuben)
- Überanpassung (diese Kinder hoffen, durch übermäßiges Brav-Sein, durch blinden, ggf. vorauseilenden Gehorsam die stets als bedrohlich erlebten Erwachsenen zu beschwichtigen und so ihre Ängste zu reduzieren)
- Totstell-Reflex (völliges Erstarren, nicht mehr Mucksen beim kleinsten Anflug von Gefahr. Erscheint oft bei sexuellem Missbrauch. Oft haben diese Kinder ihre Körperwahrnehmung völlig abgespalten)
- sich selber schlecht machen (Dies ist der Versuch der Kinder, eine letzte Übereinstimmung mit den Eltern herzustellen, indem sie ihnen Recht geben und die Schuld / Schlechtigkeit auf sich nehmen, in der Hoffnung, durch diese Zustimmung verschont zu bleiben)
- sexualisiertes Verhalten (z.B. Lolita-Verhalten. Dies ist der Versuch des Kindes, die Kontrolle über die erwartete Missbrauchssituation zu behalten "Wenn ich selber aktiv anfange, dann hab ICH mehr Kontrolle, als wenn ich es passiv ertragen muss". Es kann aber auch ein Hinweis sein, dass das Kind glaubt, sein Bedürfnis nach Nähe nur in Verbindung mit Sexualität befriedigt zu bekommen)
- Identifikation mit dem Aggressor (diese Kinder sind sehr aggressiv und zerstörerisch Sie versuchen durch "Rambo-Gehabe" abzuschrecken und stark zu erscheinen, in der Hoffnung, dass sich keiner mehr an sie heranwagt um sie zu misshandeln. "Wenn ich nie wieder schwach bin, kann mir keiner mehr was tun")
- Verleugnung / Verdrängung (diese Kinder versuchen so zu tun, als sei nichts gewesen und unterdrücken bzw. spalten ihre Ängste ab. Manche Kinder idealisieren sogar ihre Erfahrungen bzw. Eltern, um sich selber (und andere) davon zu überzeugen, dass doch gar nichts Schlimmes passiert ist. Oft bahnen sich die Gefühle dann andere Wege, z.B. über psychosomatische Krankheiten, Phobien, Alpträume etc.)
- Dissoziation
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Exkurs: Da die Dissoziation eine besondere Rolle beim Erleben, Erinnern und Ausagieren der traumatischen Erfahrungen hat, möchte ich an dieser Stelle genauer darauf eingehen.
Bei der Dissoziation handelt es sich um einen Schutz- bzw. Abwehrmechanismus, der sich insofern von den anderen Abwehrmechanismen unterscheidet, dass er nicht nur NACH, sondern schon WÄHREND der Traumatisierung eingesetzt wird, um das furchtbare Geschehen seelisch überhaupt überleben zu können. Dissoziation bedeutet „übersetzt“ das Fragmentieren (Zerbrechen) des Erlebens in einzelne Teile, einzelne Sinneseindrücke und das anschließende Abschalten aller oder einzelner Sinneskanäle. D.h. schon während des traumatischen Erlebens reagiert die Psyche zu ihrem Schutz mit Dissoziation. Sie zerlegt das Erleben in Einzelteile und schaltet einzelne bis hin zu allen Sinnes-/Wahrnehmungsbereiche (Kanäle) ab, um das Geschehen erträglicher zu machen. So kann es kommen, dass nach dem Trauma keinerlei oder nur bruchstückhafte Erinnerungen abgerufen werden können (z.B. nur die Geräuschkulisse und die Gerüche, aber keine opt. Eindrücke und keine Körperempfindungen/Schmerzen o.ä.). Der Rest (oder auch die gesamte Erfahrung, bei völligem Abschalten aller Kanäle) versinkt in Amnesie und ist der bewussten Erinnerung nicht zugänglich. Das liegt daran, dass nur solche Gedächtnisinhalte bewusst abrufbar sind, die im Hippocampus (dem neuzeitlichen ,,bibliothekaren Gedächtnis”) abgespeichert werden. Diese Inhalte können versprachlicht, in eine zeitliche Reihenfolge gebracht bzw. einem ,,Damals” zugeordnet oder/und als reproduzierbare sinnliche Erinnerungen abge-rufen werden. Der Hippocampus wird auch ,,kühler Speicher” genannt, weil über die dort gespeicherten Erinnerungen mit relativ geringer emotionaler Beteiligung berichtet werden kann. Man kann sich das wie einen zersprungenen Spiegel vorstellen, von dem einige der Splitter in den Hippocampus gelangen, der Rest kommt dort nicht an. Das bedeutet aber nicht, dass der Rest nicht gespeichert wird. Er wird allerdings in einem anderen, stammes-geschichtlich älteren Teil, der Amygdala gespeichert. Dort ist das gesamte traumatische Erlebnis mit allen sensorischen und emotionalen Anteilen, d.h. allen Splittern aufbewahrt, jedoch ohne bewussten Zugang.
Diese Erinnerungen können aber durch äußere (und ggf. auch innere) Reize, sog. Trigger, schlagartig aktiviert werden und dann mit voller Wucht aufbrechen. Das nennt man einen Flashback . Wir kennen alle die urplötzlich losbrechenden, extremen Reaktionen der Kids auf scheinbar harmlose Ereignisse /Wahrnehmungen /Reize, z.B. die Schreiattacke wegen einer schnellen Handbewegung, den Panikanfall, der durch einen bestimmten Gegenstand ausgelöst wird, den Wutanfall, der auf eine lieb gemeinte Berührung folgt o.ä..
Diese scheinbar harmlosen Auslöser sind für das entsprechende Kind ein Trigger, der die Erinnerung in der Amygdala auslöst und einen Sturm an Emotionen /Körperempfindungen / inneren Bildern etc. los tritt. Der Unterschied zu einer ,,Hippocampus-Erinnerung“ ist, dass sich die ,,Amygdala-Erinnerungen” anfühlen, als würden sie ,,Jetzt und Hier” erlebt und es für das Kind nicht fühlbar /erkennbar ist, dass die Bedrohung tatsächlich vorbei ist. Das Kind kann keine realistischen raum-zeitlichen Einordnungen vornehmen, und so reagiert es so massiv, als ob es erneut in die traumatische Situation gerät, mit allen Emotionen, Körperreaktionen, etc.. Solch ein Flashback stellt eine Retraumatisierung dar und sollte, so weit dies uns möglich ist, vermieden werden. Die Idee, dass ein Flashback eine kathartische und damit heilsame Wirkung haben kann, hat sich in der therapeutischen Praxis nicht bestätigt. Doch solange die Psyche die unerträglichen Erinnerungen in die Amnesie der Amygdala verbannt, kann es immer wieder passieren, dass sie angetriggert werden und das Kind davon völlig überflutet wird. Deshalb ist es, hirnphysiologisch ausge- drückt, Ziel von Traumatherapie, die Erinnerungen bzw. die Splitter aus der Amygdala in den Hippocampus zu überführen, weil dort gespeicherte Erinnerungen nicht so überflutend, unkontrollierbar und beängstigend sind. Wenn dies gelingt, kann der Traumatisierte eines Tages sagen: ,,Damals habe ich.... erlebt. Es war wie es war”, ohne emotional total überwältigt zu werden. Diese Arbeit gehört allerdings in die Hände erfahrener Therapeuten und sollte niemals von den Pflegeeltern versucht werden. Deshalb sollten Pflegeeltern das Kind nicht auffordern, von seinen traumatischen Erlebnissen zu erzählen und schon gar nicht nachbohren, um herauszufinden, was das Kind genau erlebt hat. Wenn das Kind allerdings von sich aus zu erzählen beginnt, dann ist es wichtig, ihm zuzuhören (ohne weiterführende Fragen zu stellen!) und ihm Verständnis und Mitgefühl zu vermitteln.
Dissoziative Zustände sind allerdings nichts völlig Außergewöhnliches. Sie treten nicht nur bei Traumatisierungen, sondern auch im Alltag auf. Sie sind ein Schutzmechanismus, denn sie helfen, einzelne oder mehrere Sinneskanäle abzuschalten, wenn sich das Gehirn gleichzeitig mit zu vielen Reizen befassen muss.
Beispiel: Wenn man sich sehr auf eine Sache konzentrieren will und es ist sehr unruhig im Umfeld, dann kann es vorkommen, dass man förmlich nichts mehr von dem Geschehen um sich herum wahrnimmt. Oder es kann bei einem Unfall passieren, dass man den Schmerz erst bemerkt, wenn der erste Schreck vorbei ist.
Insofern sind dissoziative Zustände nicht von vornherein als negativ zu bewerten, sondern können, z.B. für eine bessere Konzentration, ausgesprochen hilfreich sein. Auch der erstrebenswerte Zustand des „Flow“ (völlig in eine Tätigkeit versunken sein) ist ein ausgeprägt dissoziativer Zustand.
Dennoch kann es nötig sein, solche Zustände zu stoppen, denn sie treten, verbunden mit einem ängstigenden, negativen Erleben, auch dann auf, wenn Erinnerungs-Splitter in der Amygdala ,,angetriggert” werden, sich quasi ein Erinnerungsbild vor die Realität schiebt (auf welches das Kind dann reagiert) und die realen Sinneseindrücke dadurch überlagert bzw. abgeschaltet werden.
In solchen Momenten ist es sinnvoll, den dissoziativen Zustand zu unterbrechen. Dies kann geschehen durch:
- Körperwahrnehmungen ansprechen, z.B. etwas kräftig berühren lassen, das einen starken Reiz darstellt
- Auffordern, sich auf einen bestimmten z.B. optischen Reiz im Hier und Jetzt zu fokussieren
- Auffordern zu kognitiven Prozessen, z.B. Rechnen, Zählen o.ä.
- Auffordern sich umzuschauen und in Raum und Zeit zu orientieren (Wer bin Ich ? Wo bist Du hier? Welcher Tag ist heute?)
Manche Traumatisierte beherrschen eigene Dissoziations-Stopps. Z.B. kneifen sie sich oder klopfen auf etwas drauf. Auch selbstverletzendes Verhalten, z.B. Schnippeln oder sich selber schlagen, kann einen Dissoziations-Stopp darstellen. Es lenkt die Aufmerksam-keit von den bedrohlichen, unkontrollierbaren Erinnerungen auf die (kontrollierbare) Körperwahrnehmung. Meist schnippeln sie so lange, bis sie Schmerz spüren, d.h. in ihrem Körper im Hier und Jetzt angekommen sind, und damit die Dissoziation gestoppt haben. (Anmerkung: Massives selbstverletzendes Verhalten, z.B. das Zufügen stark blutender tiefer Wunden, ist meist kein Dissoziations-Stopp, sondern vermutlich Ausdruck davon, dass die negativen Botschaften des traumatisierenden Täters derart verinnerlicht sind, dass sie immer noch wirken, sog. Täterintrojekt).
Hier endet mein Exkurs zum Thema Dissoziation und wir wenden uns wieder den anderen Folgen von Traumatisierung zu.
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Alle Abwehrmechanismen sind zum einen der Versuch, die massiven Ängste abzuwehren, zu kontrollieren, zu reduzieren, aber immer auch Signal. Sie zeigen uns, was mit dem Kind passiert ist. So zeigt z.B. ein pseudoautonomes Kind, dass es keine Gelegenheit hatte, eine Bindung einzugehen und positive Abhängigkeit zu erfahren. Ein destruktives Kind zeigt durch seine Zerstörungswut, wie sehr es selbst zerstört wurde. Ein verleugnendes Kind zeigt, dass seine Ängste und Nöte nie wahrgenommen und immer geleugnet wurden, ein sexualisiertes Kind, dass es viel zu früh mit Sexualität überwältigt wurde etc.
Das Erkennen der Abwehrmechanismen hilft, mit dem Kind an dem Trauma zu arbeiten, denn wenn es gelingt, dem Kind in einfühlsamen Dialogen den Zusammenhang zwischen Trauma und Verhalten (Abwehrmechanismen) deutlich zu machen, dann kann es beginnen, von seinen Erlebnissen Abstand zu nehmen und seine Abwehr aufzugeben. Dies ist ein langer und schmerzvoller Weg, denn das Kind muss im Verlauf dieses Prozesses Zugang zu seinen Ängsten (und zu seiner damit zusammenhängenden Wut auf die Eltern!) finden, diese zulassen, lernen, darüber zu sprechen bzw. zu spielen und die Zusammenhänge zwischen seinem heutigen So-Sein und seinen Erfahrungen herstellen. Dann kann es ggf. gelingen, dass das Kind genug Distanz zu seinen Traumata herstellen kann, dadurch seine Abwehrmechanismen aufgeben und eines Tages sagen kann: "Es war, wie es war". Dies ist das Optimum, dass erreicht werden kann! Dies ist für uns Pflegeeltern allerdings ein schwieriger Seiltanz, denn das direkte Ansprechen des Traumas kann das Kind völlig überfordern und sogar retraumatisierend wirken (s.o.), und so müssen wir Wege finden, dem Kind die Zusammenhänge indirekt nahe zu bringen. Solche Wege werde ich weiter unten aufzeigen.
Neben den bereits genannten Folgen von Traumatisierung wird durch die Erkenntnisse der Hirnforschung immer deutlicher, dass das wiederholte Erleben von traumatisierenden Situationen, insbesondere im frühen Kindesalter, auch deutliche hirnorganische Schäden verursacht. Bei vielen traumatisierten Kinder finden sich, einige der folgenden Schäden:
- Substanzverlust, der sich oft durch vergrößerte Ventrikel offenbart
- mangelnde oder verzögerte Myelinisierung (was eine schnelle und präzise Reizverarbeitung erschwert)
- verringerte Dicke des Corpus Callosum (Brücke zwischen rechter u. linker Hemisphäre)
- verringertes Volumen des Hippocampus und der Amygdala
- Defizite der Frontalhirnentwicklung, besonders in der rechten Hemisphäre
- Defizite auf der Ebene der sensorischen Integrationsfähigkeit
Darüber hinaus sind die Gehirne traumatisierter Kinder, insbesondere bei solchen, die während ihrer ersten Lebensjahre in einer permanent bedrohlichen Situation lebten, sehr „traumafixiert”, denn sie haben die Entwicklung und Stabilisierung ihrer synaptischen Netzwerke auf das Überleben in der angsteinflößenden Situation ausgerichtet. Da unsere Gehirne immer jene Verbindungen zwischen Nervenzellen stabilisieren und ausbauen, die häufig benutzt werden, sind bei diesen Kindern vor allem jene Vernetzungen besonders stabil, die dem Überleben, d.h. der Vermeidung und der Abwehr von (vermeintlichen) Gefahren und erneuter Traumatisierung dienen. Dies erklärt die erstaunliche Resistenz der Auffälligkeiten traumatisierter Kinder, selbst wenn sie bereits lange Jahre in einem beschützenden Lebensumfeld leben. Hier ist es tröstlich zu wissen, dass unsere Hirne, insbesondere Kinderhirne sehr plastische Organe sind, die sich durch korrigierende Erfahrungen Stück für Stück verändern können. Dies erfordert allerdings eine Menge Zeit und Geduld....
5. Wie kann diagnostiziert werden, dass ein Kind traumatisiert wurde?
- Verhaltensbeobachtung (zeigt sich auffälliges Verhalten? Welches?)
- Gibt es Entwicklungsverzögerungen (Häufig bei traumatisierten Kindern, vermutlich weil sie soviel Energie fürs Überleben verwenden müssen, dass sie kaum Kraft für eine normale Entwicklung hatten)
- Beobachten der Mutter-Kind-/ Vater-Kind-Interaktion
- Ist das Kind hyperaktiv und desorganisiert?
- nach Abwehrmechanismen Ausschau halten
- das Spiel des Kindes beobachten und ggf. fragend begleiten
- Zeigt das Kind Ängste?
- Hat das Kind aggressive bzw. Tötungsphantasien?
- Äußert es Unterstellungen gegen die Pflegeeltern (Bekomme nichts zu essen o.ä.)
- allein mit dem Kind sprechen ("Ich habe gehört, es geht dir manchmal nicht so gut...")
- mit Kiga und Schule sprechen
- Befragung der Eltern mit einem sog. strukturellen Interview
- Untersuchung des Gehirns durch bildgebende Verfahren
Das können wir natürlich nicht alles selber machen, aber auf einige Punkte können auch wir "Laien" unser Augenmerk richten und versuchen zu erfassen, was das Kind uns zeigen will....
6. Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien
Ich hatte ja schon dargestellt, dass traumatisierte Kinder verschiedenste Abwehrmechanismen einsetzen, um ihre Ängste zu mildern bzw. zu kontrollieren und im Alltag halbwegs "normal" leben zu können. Nun stellen sich zwei Fragen: Wann werden wir Pflegeeltern mit diesen Mechanismen, die sich ja in auffälligem Verhalten ausdrücken, konfrontiert? Und wie können wir darauf reagieren?
Um die erste Frage beantworten zu können, berichte ich zunächst über die typische Entwicklung von Pflegeverhältnissen. Es gibt drei Phasen, die unterschiedlich lang sind. Die erste Phase ist: Die Anpassungsphase : Nach der Aufnahme in eine Pflegestelle und Tage, Wochen bis Monate später befindet sich das Kind in der Anpassungsphase. Hier checkt es zunächst ab, wo es hingeraten ist, wie die Menschen so drauf sind, ob es vor diesen konkreten Menschen Angst haben muss, ob es sich sicher fühlen kann, wie die Regeln sind, wer ihm welche Beziehung anbietet etc. In dieser Phase ist es meist brav und angepasst und geht kein Risiko ein. Oft lassen sich schon die Abwehrmechanismus-Muster erkennen (z.B. will ein pseudoautonomes Kind alles alleine machen, oder ein Kind mit Totstell-Reflex fällt in scheinbar bedrohlichen Situationen in eine Starre, oder ein "flüchtendes" Kind zappelt und hampelt ständig u.ä.), aber das Kind ist offensichtlich bemüht, nicht anzuecken und versucht, sich gut in die Familie einzufügen. Wenn es beginnt, sich sicherer zu fühlen, Vertrauen zu fassen und erste Beziehungen einzugehen, beginnt die zweite Phase. Die Übertragungsphase : Dies ist die schwierigste Phase für alle Beteiligten, denn nun beginnt das Kind seine alten (traumatischen) Erfahrungen, seine (negativen) Erwartungen und Ängste auf die neuen Bezugspersonen zu übertragen. D.h. Übertragung bedeutet, dass es die neuen Eltern mit den alten "verwechselt" und sich so benimmt, als ob es auch in der Pflegestelle mit Bedrohung, Misshandlung, Missbrauch, Mangelversorgung etc. rechnen muss. Nun kommen die Abwehrmechanismen voll zum "Ausbruch". Das Kind unterstellt den Pflegeeltern (z.T. unbewusst, z.T. aber auch bewusst verbal) das Verhalten der leiblichen Eltern und (re)agiert z.T. sehr heftig auf die vermeintliche Wiederholung seiner traumatischen Erfahrungen. Die Verwechslung mit den leiblichen Eltern kann so total sein, dass dem Kind (in seiner Wahrnehmung) tatsächlich nicht die neuen, sondern die leiblichen Eltern gegenüber stehen . Das Verhalten des Kindes scheint darauf abzuzielen, die alten Erfahrungen zu wiederholen, d.h. die Pflegeeltern dazu zu bringen, sich wie die alten Eltern zu verhalten. Im Zustand der Übertragung kann
- ein sexuell missbrauchtes Kind beginnen, den Pflegevater mehr oder weniger direkt zu sexuellen Handlungen aufzufordern,
- ein schwer misshandeltes Kind, das eigentlich schreckliche Angst hat wieder verprügelt zu werden, die Pflegeeltern extrem reizen und provozieren
- ein verwahrlostes, unterversorgtes Kind Nahrungsmittel horten oder angebotenes Essen angewidert zurückweisen und /oder den Pflegeeltern vorwerfen, sie würden es immer hungern lassen
- ein Kind, dass viel Verantwortung tragen musste, das "Management" der Familie an sich reißen wollen, sich nichts sagen lassen und um die Mutterrolle kämpfen,
- ein verlassenes Kind sich ständig an die Pflegeeltern klammern, um ihre vermeintliche Absicht fortzugehen, zu verhindern oder den Pflegeeltern vorwerfen, sie würden es ständig allein lassen oder schreiend jede Umarmung abwehren, weil ihm diese Nähe Angst macht, u.s.f.
Viele Kinder, die vielfach traumatisiert wurden, zeigen eine wilde Mischung unterschiedlicher Übertragungsmuster, was die Lage nicht gerade erleichtert....
Oft erscheint das Verhalten des Kindes unangemessen und fehl am Platze, weil es ja nicht auf die realen, sondern auf (z.T. unbewusst) erinnerte Situationen reagiert. Solche sog. Übertragungen lösen im Gegenüber, d.h. i.d.R. in den Pflegeeltern eine emotionale Reaktion aus, die Gegenübertragung genannt wird. Diese emotionale Reaktion kann, wenn sie nicht reflektiert wird, tatsächlich dazu führen, dass es das Kind "schafft", die Pflegeeltern dazu zu bringen, ähnlich wie die leiblichen Eltern zu fühlen und zu (re-)agieren, z.B. wütend zu werden und das provozierende Kind tatsächlich zu schlagen, das klammernde Kind tat-sächlich völlig genervt fortzustoßen und Distanz zu ihm zu suchen, dem um Verantwortung kämpfenden Kind tatsächlich zuviel Verantwortung zu überlassen, fatalerweise sogar das missbrauchte Kind mit Lolita-Gehabe erneut zu missbrauchen, weil es dies ja scheinbar so will...etc. So entsteht eine ungewollte Reinszenierung der Erfahrungen des Kindes und damit eine Retraumatisierung. Die Ängste und damit die Abwehrmechanismen werden ver-festigt, die Gefahr, dass sich das daraus resultierende auffällige Verhalten chronifiziert ist groß. Zum Glück kommt es für die meisten von uns Pflegeltern nicht in Frage, sich tatsächlich so zu verhalten wie die erziehungsunfähigen leiblichen Eltern, selbst wenn wir im Zustand der Gegenübertragung z.T. derart unangenehmen Gefühlen ausgesetzt sind, dass wir gelegentlich entsprechende Impulse verspüren.
Doch die Gegenübertragung bietet noch eine weitere Herausforderung, denn sie kann in den Pflegeeltern auch Emotionen auslösen, die nicht denen der leiblichen Eltern, sondern den Gefühlen des Kindes ähneln. Hier überträgt das Kind durch sein Verhalten seine eigenen Gefühle auf sein Gegenüber. So kann - ein aggressives "Monster-Kind" (das sich als King-Kong aufspielt, um so mächtig zu erscheinen, dass sich keiner mehr an es heran traut und so versucht, seine Angst zu beherrschen...) in den Pflegeeltern Angst auslösen,
- ein missbrauchtes Kind kann Ekelgefühle hervorrufen,
- ein pseudoautonomes Kind Überforderungsgefühle und
- ein verlassenes Kind Gefühle der Trauer und Einsamkeit auslösen etc.
Wird dies nicht erkannt und reflektiert und erleben die Pflegeeltern diese unangenehmen Emotionen als ihre ureigenen Gefühle (was leicht passieren kann, denn die „Gegenübertragungs-Gefühle” fühlen sich genauso echt und authentisch an wie eigene Gefühle), die vermeintlich durch das Verhalten des Kindes verursacht werden. So kann es passieren, dass die Pflegeeltern ihrerseits Abwehrmechanismen entwickeln, um diesen unangenehmen Gefühlen nicht länger ausgesetzt zu sein und so die Emotionen und sogar das “verursachende" Kind abwehren, ablehnen. Dies hat natürlich zur Folge, dass sich das Verhalten des Kindes verstärkt, denn es versucht nun, mit "noch mehr von dem Gleichen" (es hat ja aufgrund seiner inneren Struktur nicht viele Wahlmöglichkeiten) sein eigentliches Ziel zu erreichen. Dies kann sich in einem Kreislauf so verstärken, dass Pflegeeltern und Kind in ihrer Hilflosigkeit und ihren Abwehrmechanismen verstrickt bleiben und die Gefahr einer Retraumatisierung entsteht.
Das Schwierige an dem Übertragungs-Gegenübertragungsprozess ist die subjektive Echtheit der damit verbundenen Gefühle, sowohl bei den Pflegeeltern wie auch beim Kind. Das Kind erlebt im Zustand der Übertragung seine (negativen) Gefühle als ebenso authentisch wie die Pflegeeltern die ihrigen im Zustand der Gegenübertragung. Natürlich liegt die Verantwortung, aus diesem Dilemma Auswege anzubieten, bei den Erwachsenen, da nur sie die Fähigkeit besitzen eigenständig zu reflektieren und sich so von ihrem Gefühlswirrwarr zu distanzieren. Dies ist den meisten von uns Pflegeltern auch klar, aber dennoch stellt sich uns immer wieder die Frage: Warum tun die Kinder das? Warum bleiben sie nicht so lieb und angepasst, wie zu Beginn des Pflegeverhältnisses, sondern gehen in die Übertragung? Warum streben sie scheinbar nach der Reinszenierung ihrer schlimmen Erlebnisse? Was ist ihr eigentliches Ziel? Wollen sie wirklich alles immer wieder erleben?
NEIN! Sie wollen nicht die reale Erfahrung wieder erleben, sie wollen:
- mit ihren Gefühlen, die mit ihren Erlebnissen zusammenhängen, Schrittchen für Schrittchen in Kontakt kommen und in der neuen beschützenden Lebenssituation bestätigt bekommen, dass ihre Gefühle den schrecklichen Erfahrungen angemessen waren und sie nicht verrückt oder schlecht sind
- zeigen, was ihnen zugestoßen ist (und was sie (noch) nicht in Worte kleiden können)
- korrigierende Erfahrungen machen, denn sie hoffen insgeheim, dass die Pflegeeltern ihre indirekten Botschaften verstehen und eben nicht so (re)agieren, wie die leiblichen Eltern.
Mit ihrem Verhalten erzählen uns die Kinder von sich, und unsere emotionalen Reaktionen darauf (Gegenübertragung) können eine sehr wertvolle Informationsquelle sein! Dies ist nun die gute Nachricht. Gegenübertragungen können sehr effektive Hilfsmittel sein, für unseren Versuch, unsere Kinder zu verstehen! Sie lassen uns spüren, wie das Kind die leiblichen Eltern erlebt hat (wenn es in uns Gefühle aktiviert, die denen der leiblichen Eltern ähneln) und sie zeigen uns, wie sich das Kind gefühlt hat (wenn wir in der Gegenübertragung in seiner Gefühlswelt "versinken"). Wenn es uns gelingt, in dieser Phase (die leider jahrelang dauern kann...) so reflektiert zu bleiben, dass wir zum einen das Verhalten des Kindes als Botschaft verstehen und zum anderen soviel Distanz zu unseren eigenen Gefühlen herstellen können, dass wir sie als Auswirkung der Gegenübertragung entlarven und ihnen so ihren Informationsgehalt entlocken können... dann sind wir gut dran.Dann können wir dem Kind wirklich helfen, sein Trauma zu verarbeiten, ohne dabei selber "traumatisiert" zu werden. Aber, wie wir alle wissen, ist es unglaublich schwer, im Alltag ständig eine so reflektierte Haltung einzunehmen und immer ausreichend Distanz zu den eigenen Gefühlen zu wahren, in der es uns möglich wäre, die echten eigenen Gefühle von Gegenübertragungen zu unterscheiden. Hier ist der Austausch mit anderen versierten Pflegeeltern oder gute Supervision gefragt, um sich wenigstens zwischendurch immer wieder diese Mechanismen in Erinnerung zu rufen, das Geschehen in der Familie (und im eigenen Inneren...) daraufhin zu beleuchten und das eigene Verhalten ggf. zu korrigieren.
Auch das Aufhängen von kleinen Zetteln überall in der Wohnung, die uns immer wieder daran erinnern, dass wir sowohl den Übertragungen des Kindes, wie auch unseren Gegenübertragungen doch eigentlich die Botschaft entlocken wollen, kann helfen, dies im Alltag nicht immer wieder zu vergessen.
Dennoch ist der Umgang mit Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen eine unserer schwierigsten Aufgaben! Wenn es gelingt, diese vom Grundgedanken her als positive und informative Prozesse zu betrachten, dann ist sehr viel gewonnen! Leider erleben wir diese aber oft als belastend (was sie auch unbestreitbar sind...) und als Merkmal einer Fehlentwicklung. Hier ist es wichtig, sich immer wieder klar zu machen, dass - der Beginn dieser Phase ein Vertrauensbeweis des Kindes ist (denn ohne Vertrauen entsteht keine Übertragung),
- dass uns das Kind auf diese Weise etwas mitteilen möchte (auch wenn wir oft nicht auf Anhieb verstehen, was das ist...),
- dass unsere gefühlsmäßigen Reaktionen darauf ebenfalls Botschaften für uns sind, die uns etwas mitteilen können (auch wenn sie sich so unangenehm anfühlen, dass wir sie an liebsten abschalten würden...)
- dass diese Phase enden wird, und zwar um so schneller, je besser wir die Botschaften verstehen und übersetzen und so dem Kind helfen, sein Trauma zu bearbeiten, damit es mit seinen Übertragungen aufhören kann, weil es verstanden wurde.
Hilfreiche Reaktionen auf Reinszenierungen können sein:
- mit anderen als von dem Kind erwarteten Verhalten überraschen
- dem Kind deutlich machen, was gerade wirklich passiert ist, fragen, wie es die Situation erlebt hat und ggf. Verbindung zum Trauma herstellen
- einen sog. verständnisvollen Dialog führen (s.u.)
- Verständnis zeigen für das Bedürfnis, der damals wirklich schlimmen Situation heute einen anderen Ausgang zu verschaffen, dafür, dass es die Zusammenhänge heute noch nicht erkennen kann, sondern nur einfach ausagiert und vermitteln, dass man bereit ist, sich sein ,,Schreckliches” vorzustellen, es auszuhalten und mitzutragen.
Wenn es uns dann gelungen ist, dem Kind (und uns) durch diese schwierige Zeit hindurch zu helfen, es zu verstehen, es nicht zu retraumatisieren und ihm trotz aller Stolpersteine auf dem gemeinsamen Weg genug Sicherheit zu vermitteln, dann kann es nun beginnen eine echte Beziehung zu uns aufzubauen. Hiermit beginnt die dritte Phase...
Die Regressionsphase : Nachdem wir nun dachten, es sei überstanden und das Kind würde sich nun prima entwickeln, beginnt es erneut mit merkwürdigem, meist nicht altersangemessenem Verhalten. Diesmal hat es den Anschein, als ob das Kind Rückschritte machen würde, plötzlich in seiner Entwicklung auf frühe Stadien zurückfallen würde. Dies nennt man Regression. Diese Phase dauert meist nicht sooo lange und hat zum Inhalt, dass das Kind mit uns eine neue, gelungene Variante seiner frühen Kindheit durchspielen möchte. Es will ganz Kind dieser Familie werden, wenigstens symbolisch erleben, wie es wäre, wenn es hier Baby, Kleinkind (gewesen) wäre. In dieser Phase lieben es viele Kinder unter den Pullover der Pflegemutter zu kriechen und "Geburt" zu spielen, Fläschchen zu trinken, sich herumschleppen zu lassen, mit der Mutter in enge Höhlen zu kriechen und gaaaanz viel Nähe zu tanken, manche Kinder verfallen in Baby- oder Kleinkindsprache, beginnen wieder in die Hose zu machen oder mit Essen herumzuschmieren u.ä. Wenn die Übertragungs-phase zu diesem Zeitpunkt erfolgreich abgeschlossen ist, kann dies eine sehr schöne, nahe Zeit sein, wenn sich die Pflegeeltern darauf einlassen und sich bewusst sind, dass auch diese Phase vorbei geht und das Kind anschließend an seinen bereits erworbenen Entwicklungsstand anknüpfen wird, um dann rasante Fortschritte zu machen Verläuft diese Phase positiv, dann verinnerlicht das Kind die Werte und Normen der Pflegefamilie und wird "psychologisches" Kind der Familie.
(Besonders schwierig ist diese Zeit, wenn die Übertragungsphase (noch) nicht erfolgreich abgeschlossen wurde und alle (noch) in dem Gefühlschaos, dem Versuch zu verstehen und im Kampf mit den unangenehmen Emotionen stehen. Nicht alle Kinder durchlaufen diese Phasen ordentlich hintereinander. Bei manchen treten sie auch parallel auf, sodass das Kind im einen Moment das provozierende "Monster" ist, im nächsten Moment als das nähesuchende Baby unter den Pullover der Pflegemutter kriechen möchte. Dies ist dann eine ganz besondere Herausforderung für die Pflegeeltern....)
7. Was tun?
Was fangen wir nun an mit diesem Wissen? Wie können wir mit einem Kind, das auf uns alle seine negativen Erfahrungen überträgt und ein ziemliches Gefühlswirrwarr in uns auslöst, umgehen? Wie helfen wir ihm (und uns), diese Zeit möglichst gut (und schnell...) zu überstehen und gleichzeitig seine Traumata zu bearbeiten, ohne es durch ein allzu forsches Vorgehen ggf. zu retraumatisieren?
Ich hatte ja schon erwähnt, dass das Kind mit der Übertragung und auch mit den Abwehrmechanismen aufhören kann, wenn es sicher ist, dass
- wir verstanden haben
- es den Zusammenhang zwischen seinem Verhalten / seinen Gefühlen und den Erfahrungen mit den leiblichen Eltern in Verbindung bringen kann und so selber verstehen kann, warum es ist, wie es ist bzw. tut was es tut
- es glaubwürdig rückgemeldet bekommt (und für sich angenommen hat), dass es selbst, seine Gefühle und seine Reaktionen in Ordnung (den schlimmen Erfahrungen angemessen) waren und es so erkennt, dass nicht es selber "verrückt" ist, sondern dass die Welt, in der es damals lebte "verrückt" war (z.B. weil es selbstverständlich war, dass Kinder verprügelt und /oder missbraucht werden, die kleinen Geschwister zu versorgen oder dass das Geld statt für Kindernahrung für Alkohol ausgegeben wird etc.).
Dies bedeutet, dass es wichtig ist, die Botschaften des Kindes zu verstehen, zu entschlüs--seln, ihm dies zurück zu spiegeln und so dem Kind die Möglichkeit zu geben, einen Zusammenhang zwischen seinem jetzigen So-Sein und seiner Vergangenheit herzustellen. Außerdem ist es wichtig, dabei auf der Seite des Kindes zu stehen, dass heißt, dem Kind zu vermitteln, dass seine Art, mit der schrecklichen Situation umzugehen, verständlich und angemessen war und dass es einen wirklich guten Grund hat(te), sich so zu verhalten bzw. so zu fühlen.
Das "Konzept des guten Grundes" besagt, dass jedes auffällige Verhalten, insbesondere das von traumatisierten Kindern, einen guten Grund hat. Kein Kind verhält sich unangepasst, um z.B. die Pflegeeltern zu ärgern, sondern es will mit seinem Verhalten etwas über sich und seine Geschichte mitteilen. Da es seine Erlebnisse meist nicht in Worte kleiden kann, teilt es sich durch sein Verhalten mit.
- Ein verwahrlostes Kind, dass oft mangelernährt war, kann versuchen zu „erzählen", dass es früher hungern musste, indem es das Essen der Pflegemutter zurückweist oder heimlich hortet oder überall herumerzählt, dass es bei den Pflegeeltern nichts zu essen bekommt.
- Oder ein misshandeltes Kind versucht mitzuteilen, dass es früher misshandelt wurde und noch heute Angst davor hat, wieder geschlagen zu werden, indem es auf schnelle
Handbewegungen mit Schreianfällen reagiert oder den Hund quält oder andere Kinder verprügelt oder herum erzählt, es würde von den Pflegeeltern geschlagen.
- Oder ein Kind ist ständig extrem zappelig und nicht zur Ruhe zu bringen. Dies Kind möchte vielleicht zeigen, dass seine Gefühle und Erinnerungen so quälend sind, dass es sich ständig ablenken muss, um nicht davon überwältigt zu werden.
- Oder ein Kind schwärmt von seinen leiblichen Eltern, obwohl bekannt ist, dass es von ihnen schwer traumatisiert wurde und möchte auf diesem Weg mitteilen, dass seine Erlebnisse so schrecklich waren, dass es sie überhaupt nicht zugeben darf, weil es unter der Last der (realistischen) Erinnerungen zusammenbrechen würde.
- Oder ein Kind, dass dazu neigt, sich selber schlecht zu machen und stets ein sehr negatives Selbstbild zeigt, "sagt" auf diese Weise, dass sein Weg zu überleben war, den leiblichen Eltern in ihrer Meinung über das "missratene" Kind zuzustimmen und alle Schuld auf sich zu nehmen und das es große Angst vor den Folgen hat, wenn es diese Strategie jetzt aufgibt.
- Oder ein Kind zerstört ständig Sachen oder schmeißt sie achtlos in die Ecke und erzählt so, wie sehr es selbst zerstört wurde und wie achtlos mit ihm umgegangen wurde.
Diese Beispiele ließen sich noch weiter fortsetzen, aber der Grundgedanke ist vermutlich deutlich geworden. Erleben wir nun solches Verhalten, dann ist es sehr hilfreich für die Traumaverarbeitung, wenn es uns gelingt, dem Kind bei der "Übersetzung", der Entschlüsselung seines Verhaltens zu helfen. Das Kind verhält sich ja nicht berechnend, d.h. es denkt sich ja nicht "Nun verhalte ich mich mal so und so und teile damit dies und das mit. Mal sehen, ob die kapieren, was ich meine..." Nein, das Kind weiß i.d.R. selber nicht, weshalb es dies Verhalten zeigt und was sich dadurch ausdrückt. Gelingt es nun, gemeinsam mit dem Kind herauszufinden, welche Erfahrungen hinter dem Verhalten stehen und was es antreibt, sich so unangemessen zu benehmen, dann bekommt das Kind die Chance, sich selber zu verstehen, sich von seinem Verhalten zu distanzieren, es einzuordnen und dann aufzugeben. Wird sein Verhalten nur sanktioniert und damit (bestenfalls) unterdrückt, wird es selber niemals verstehen, weshalb es solche Impulse hat (die es ggf. lernt nicht auszuleben, die aber deshalb nicht verschwunden sind) und kann sie dementsprechend auch nicht einordnen und danach aufgeben. Sie kommen dann mit großer Wahrscheinlichkeit auf andere Art oder/und zu anderer Zeit wieder zum Vorschein und bringen neue Verhaltensauffälligkeiten mit sich.
Wie können wir nun dem Kind helfen, sein Verhalten zu "übersetzen"? Hier ist vor allem der verständnisvolle Dialog angesagt. In solch einem Dialog ist es wichtig, dem Kind zunächst mitzuteilen, dass man davon ausgeht, dass es einen sehr guten Grund für sein Verhalten hat und man nicht böse auf das Kind ist, sondern Verständnis aufbringt. (Gelingt es tatsächlich, solch eine Grundhaltung einzunehmen, ist es auch für die Pflegeeltern viel einfacher, sich von auffälligem Verhalten nicht angegriffen zu fühlen, sondern selber Abstand zu nehmen und gelassen zu reagieren.)
Dann ist der zweite Schritt, einen für das Kind nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen seinem heutigen Verhalten und seinen traumatischen Erfahrungen herzustellen, damit es erkennen kann, weshalb es so agiert und im Laufe der Zeit Abstand davon nehmen kann.
Denn erst wenn das Kind Zugang zu seinen Ängsten /Emotionen findet, darüber sprechen bzw. spielen (Rollen- bzw. Puppenspiele o.ä.) kann und so den Zusammenhang mit dem Erlebten nachvollziehen kann, wird es ihm gelingen, seine Abwehrmechanismen und damit sein auffälliges Verhalten aufzugeben.
Für uns Pflegeeltern ist es schwierig, stets mit solch einer Grundhaltung zu reagieren, aber es wird etwas leichter, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass das Kind zurecht total wütend auf Erwachsene ist, dass seine Abwehrmechanismen eine sinnvolle, ja z.T. überlebensnotwendige Reaktion auf "verrückte" Lebensumstände waren, dass seine Ängste und scheinbar "verrückten" Verhaltensweisen eine völlig angemessene und verständliche Folge seiner Erfahrungen sind und dass sein Gehirn durch diese Erfahrungen entsprechend geformt wurde, sodass es gar nicht anders agieren kann, selbst wenn es wollte. Gestehen wir dies dem Kind aus tiefstem Herzen zu, dann ist es einfacher, sich nicht persönlich angegriffen zu fühlen und nicht selber mit Abwehr, Wut u.ä. (Gegenübertragung ...!) zu reagieren, wenn das Kind mal wieder versucht, uns durch auffälliges Verhalten etwas über sich zu erzählen.
Nehmen wir mal an, es gelingt, einen verständnisvollen Dialog mit dieser Grundhaltung zu führen. Wie könnte der aussehen? Nehmen wir als Beispiel mal die Situation, dass ein Kind total austickt, herumschreit, beleidigend wird, vielleicht sogar schlägt/beißt/tritt, weil ihm etwas versagt wurde, z.B. die Schokolade vor dem Mittagessen....
Kind: Wo ist die Schokolade?
PM: Es gibt jetzt keine Schokolade. Das Essen ist gleich fertig.
Kind: Ich will aber !!!!
PM: Nein, jetzt nicht. Wenn du dein Mittagessen aufgegessen hast, dann darfst du ein Stück.
Kind: Ich will aber JETZT !!!!
PM: Nein, nachher....
Kind (schon deutlich lauter): Du blöde Kuh! Nie bekomme ich was von dir! Du bist sooooooo gemein! (Tritt gegen den Küchenschrank)
PM (auch schon etwas lauter): Also, mein Lieber...so schon gar nicht! Erst nach dem Essen. Basta !!!
Kind (tickt allmählich aus): Kreisch!!!!! Ich will aber jetzt!!!!!! Gib mir die Schokolade, du blöde Ziege!!! (Schlägt nach der PM und guckt hasserfüllt)
PM (bemerkt allmählich, dass beim Kind mordsmäßig was hochkommt und schaltet - grade noch rechtzeitig - um...spricht jetzt in ruhigem, freundlichem Ton): Wenn ich sehe, wie sehr es dich aufregt, jetzt keine Schokolade zu bekommen, dann frage ich mich, was wohl der Grund dafür ist...Ich bin sicher, du hast einen wirklich guten Grund, so wütend zu werden...
Kind (immer noch laut, aber etwas verblüfft): Weil du mir keine Schokolade gibst!!!!
PM: Ja, deshalb bist du jetzt so wütend, und ich denke, du bist auch früher schon oft ganz doll wütend gewesen, wenn du nichts zu essen bekommen hast...
Kind (schon leiser, etwas schnippisch abwehrend): Na und...?
PM: Ich wär auch sehr wütend, wenn ich Hunger hätte und bekäme nichts zu essen. Das muss ganz schön schlimm sein....
Kind (überrascht, ein bisschen kläglich): Jaaa....
PM: Ich finde, wenn eine Mutter ihrem Kind gar nicht das gibt, was es zum Leben braucht, dann ist das Kind zurecht wütend...
Kind: Wirklich???
PM: Ja! Was ein Kind zum Leben braucht, das muss es bekommen, sonst bekommt es ja ganz dolle Angst und denkt vielleicht sogar, dass es gar nicht weiterleben kann. Das ist ja schrecklich für das Kind, und dass es dann ganz dolle wütend wird, das kann ich gut verstehn....
Kind (guckt erstaunt, nachdenklich): . . . .Dann hättest du auch Angst? Und wärst auch wütend? . . . wie ich. . .?
PM: Ja, das wäre ich wohl auch. . .
Kind (wirft einen prüfenden, aber milden Blick zur PM): . . .das wärst du wohl . . .
PM: Was hältst du davon, wenn du mir hilfst den Tisch zu decken, damit wir jetzt was Leckeres zu Mittag essen können und danach bekommst du dein großes Stück Schokolade.
Kind (versöhnlich): Na gut, aber dann bekomm ich ein gaaanz großes Stück!
PM (nimmt Kind in den Arm): Jaaa! Ein gaaaaanz großes Stück ;-)))
Hätte die PM nicht schnell reagiert und umgeschaltet, wäre die Situation eskaliert, es wäre vermutlich zu Sanktionen gekommen, beide wären wütend auseinander gegangen und keiner hätte was gelernt. So aber hat das Kind die Chance bekommen, sich selber ein bisschen besser zu verstehen und zu erkennen, dass es selber gar nicht so "verrückt" ist, wenn es auf die früheren Versagenssituationen mit Angst und Aggression reagiert, und es hatte so die Möglichkeit die (korrigierende) Erfahrung zu machen, dass ihm mit Verständ- nis begegnet wird und es darauf vertrauen kann, dass es in der Pflegefamilie bekommt, was es braucht (aber nicht unbedingt alles, was es will...).
Dies ist ein fiktives Beispiel eines verständnisvollen Dialogs. Solche Dialoge in der Realität zu führen, ist gar nicht so einfach, vor allem, wenn sich die Situation, wie in meinem Beispiel, schon ein bisschen aufgeheizt hat. Aber er lohnt sich, darüber nachzudenken, wie es einem selber gelingen kann, zumindest gelegentlich auf solch eine Weise zu reagieren.
Wir können aber noch mehr tun, um den Kindern zu helfen, mit ihren Gefühlen und Erlebnissen in Kontakt zu kommen und diese zu verarbeiten. Eine weitere Möglichkeit sind Kampf- und Rollenspiele . Viele Kinder begeben sich gern in die Rolle des Täters und agieren spielerisch ihre Aggressionen aus. Auch wenn uns die zugewiesene Opferrolle unangenehm sein sollte, ist sie eine Chance, dem Opfer (d.h. dem Kind in seiner damaligen Situation) eine Stimme zu geben und für das Kind zu sprechen. Ein Beispiel:
Pflegevater und Kind rangeln und toben. Es wird gelacht und gerauft. Plötzlich beginnt das Kind hart zuzuschlagen und nimmt den PV in den Würgegriff. . .
PV: Hui, wer bist du denn jetzt?
Kind (in despotischem Tonfall): Ich bin viel stärker als Du!! Ich mach dich jetzt tot!!!
PV: Ach, du bist jetzt wohl ein böser Mann...dann bin ich jetzt wohl mal das Kind... (in ängstlichem Tonfall) Hilfe !!! Ich hab Angst !!! Warum hilft mir denn keiner?
Kind: Ha, dir wird keiner helfen! Ich kann mit dir machen was ich will!
PV: Hilfe! Hilfe! Der will mir weh tun!!! Bitte tu mir nicht weh. . .!
Kind: Doch! (haut auf den PV ein)
PV: Aua !!!! Nein !!! Ich will das nicht !! Das ist ganz gemein und böse, wenn die Großen Kindern weh tun.....Hör auf!!!
Kind: Nein! (holt ein Band und fesselt den PV)
PV: Nein! Nicht!!! Helft mir doch!!! Der Mann ist ganz böse zu mir! Ich hab ganz dolle Angst!!
Kind: Ha, Haaaa!! Ich bin böööööse!!!
PV: Ja, du bist ein ganz böser Mann! So was darf man nicht machen!!! Das macht Kindern schreckliche Angst und es macht sie gaaaanz doll wütend (jetzt beginnt sich der PV zu wehren)!!!!
Kind: Waaaas??? Du wehrst dich? Na warte....(will zuschlagen)
Da greift die PM ein und beschützt das Kind (PV) vor dem "bösen Mann".
PM: Das ist ja schrecklich, was der Große da mit dem Kind gemacht hat. Das arme Kind!!! (bindet den PV los) Das hatte bestimmt ganz schreckliche Angst. Wenn Erwachsene Kindern so weh tun, dann ist das ganz schlimm. Die Kinder können sich ja gar nicht richtig wehren, auch nicht, wenn sie ganz doll wütend werden. Die Kinder haben dann bestimmt noch oft ganz lange später Angst oder sind ganz, ganz wütend auf alle Erwachsenen....
PV (steigt aus seiner Rolle aus und steht auf): Oh ja, das hab ich jetzt auch gespürt, wie das Angst macht und wie wütend einen so was macht. Ich denke auch, dass Kinder sich noch lange so schrecklich fühlen, wenn sie so was erlebt haben (holt das Kind aus seiner Rolle als "böser Mann", indem er es auf den Arm nimmt oder sich vor es hin-hockt und sagt) Für dich war das damals bestimmt auch ganz schlimm, mein kleiner Schatz (sanfte Berührung). Ich werde ganz wütend, wenn ich daran denke. dass dir jemand so wehgetan hat. Da kann ich wirklich gut verstehen, wenn du manchmal jetzt noch traurig oder wütend bist oder Angst hast. . .Wenn dir oder den anderen Kindern jemals jemand weh tun wollte, dann werde ich euch davor beschützen, versprochen!
PM: Ja, ich auch! So was wird unseren Kindern nie wieder passieren! Da passen wir gut auf! (Beide nehmen das Kind in den Arm)
Naja, so ähnlich könnte solch ein Spiel ablaufen. Wichtig ist, am Anfang klarzustellen, dass nun ein Rollenspiel beginnt (. . .du bist jetzt wohl....und ich bin dann jetzt...) und ebenso das Ende klar zu kennzeichnen (durch Änderung der Körperhaltung, der Stimmlage, der Position im Raum oder direkt per Ansage "Ich bin jetzt wieder ich"), damit keine Verwirrung beim Kind auftritt. Wichtig ist auch, dafür Sorge zu tragen, dass das Kind wieder aus seiner Rolle aussteigt, wenn das Spiel zu ende ist.
Noch eine Möglichkeit, dem Kind zu verstehen zu geben, dass ihm Verständnis entgegen gebracht wird, ist das Selbstgespräch bzw. das Gespräch zwischen den Pflegeeltern, in dem Gedanken geäußert werden, was wohl der gute Grund des Kindes für sein Verhalten sein könnte. Dann braucht das Kind nicht direkt zu reagieren, hört aber sehr wohl, dass die Pflegeeltern Verständnis haben und sich über das Kind Gedanken machen und es kann vielleicht sogar den einen oder anderen Gedanken aufschnappen und für sich weiter denken.
Weitere Interventionen im Alltag , die für traumatisierte Kinder hilfreich sind:
- Wahrnehmungsverbesserung (Ergotherapie, Körpererfahrung)
- das subjektive Sicherheitsgefühl des Kindes prüfen (inwieweit fühlt es sich vor dem Täter geschützt und sicher) und ggf. verbessern
- Trigger erkennen (+ ggf. vermeiden)
- Reinszenierung erkennen und ansprechen (s.o.)
- Psychoedukation d.h. immer wieder, besonders bei Reinszenierungen, dissoziativen Zuständen, Flashbacks, etc. dem Kind vermitteln,
a) dass es völlig normal und gesund ist, auf so was Schlimmes/Verrücktes so... zu reagieren, ja, das dies ein Zeichen seines Normal-Seins ist, dass es „verrückt” reagiert. b) dass es toll und stark ist, weil es das Trauma überlebt hat und Wege gefunden hat, trotzdem im Alltag zu agieren/funktionieren. c) dass es einen Zusammenhang zwischen seinem heutigen Verhalten und dem Trauma gibt d) dass die „Störung” sein Schutz war/ist und deshalb erst mal völlig o.k. ist e) dass es Wege /Möglichkeiten gibt, zu lernen, wie es noch besser mit der Traumatisierung umgehen kann, ohne sich immer wieder in Schwierigkeiten zu bringen und das man ihm zutraut, diese Wege zu gehen.
- Imaginationsübungen zur Stabilisierung der Ich-Funktionen. Diese Übungen geben dem Kind das Gefühl, dass es sein inneres Geschehen beeinflussen und kontrollieren kann und geben ihm Möglichkeiten an die Hand, sich selber zu helfen (z.B. durch das Versetzen an einen inneren sicheren Ort oder das Herbeirufen von hilfreichen, schützenden Wesen, z.B. Engeln o.ä.)
Abwehrmechanismen, Reinszenierungen, Trigger, dissoziative Zustände und Flashbacks haben wir nun kennen gelernt. Wenn es gelingt, sie zu erkennen und in verständnisvoller Weise (Psychoedukation, verständnisvoller Dialog, ,,guter Grund” etc.) anzusprechen, ist ein riesiger Schritt getan, denn dann haben wir die Möglichkeit uns vom Geschehen zu distanzieren und ggf. aus Gegenübertragungen oder einem uns-persönlich-angegriffen-Fühlen u.ä. auszusteigen. So erhält das Kind die Chance, sich und sein Verhalten besser zu verstehen und entsprechend besser anzunehmen und zu lenken. Gelingt es darüber hinaus noch, gelegentlich die eine oder andere der weiteren hilfreichen Interventionsmöglichkeiten in den Alltag einzubauen, dann bieten wir dem Kind ein ausgezeichnetes, heilsames Setting, in dem es beginnen kann, sein Trauma (soweit dies ohne professionelle Therapie möglich ist) zu verarbeiten.
Bei Kindern die zusätzlich eine therapeutische Unterstützung brauchen, wäre es gut, einen Therapeuten zu finden, der traumazentrierte Methoden beherrscht und diese in seine Arbeit einbaut.
Die z.Zt. effektivsten Methoden sind das sog.
- Screening
- EMDR (Eye-Movement-Desensitisation and Reprocessing) und
- traumazentrierte Spieltherapie (Rollenspiele u.ä.)
Psychoanalytische ( „normale“ Spieltherapie + Gesprächspsychoanalyse) und verhaltenstherapeutische Methoden haben sich als deutlich weniger wirksam erwiesen und sollten nur den ,,Rahmen” der traumazentrierten Methoden bilden, nicht als ,,Traumatherapie“ selbst betrachtet werden.
Besonders Screening + EMDR erfordern eine sehr intensive Ausbildung und viel (Selbst-) Erfahrung und sollten keinesfalls von Laien oder ungeschulten Therapeuten angewendet werden, da sie sehr kraftvolle Verfahren sind, die bei falscher Anwendung retraumatisierend wirken können.
Abschließende Bemerkung
Nachdem wir nun so viel über Traumatisierung und ihre Folgen gelernt haben, sollten wir nicht dem Irrtum verfallen, zu glauben, wir könnten nun jederzeit hilfreich und (im Sinne der obigen Ausführungen) richtig reagieren. Dies ist im 24-Std.-Alltag mit unseren besonderen Kindern nicht möglich. Ich persönlich halte es aber auch nicht für erstrebens- wert, denn wir sind für unsere Kinder in erster Linie Eltern, und wenn Eltern versuchen, stets lehrbuchmäßig zu handeln, verlieren sie schnell ihre Authentizität und Spontaneität und tendieren dazu, sich Vorwürfe zu machen, wenn es ihnen einmal nicht gelingt, „richtig“ zu handeln. Dies ist für die Beziehung zu unseren Kindern genauso wenig hilfreich wie das völlige Ignorieren der besonderen Erfordernisse im Umgang mit traumatisierten Kindern. Ziel unserer Bemühungen sollte deshalb ein gesundes Gleichgewicht zwischen fachlichem / therapeutischem Handeln und spontanem Verhalten sein, das uns sowohl erlaubt, „aus dem Bauch heraus“ wie auch aus trauma-therapeutischen Erwägungen heraus zu agieren (wobei darauf geachtet werden muss, dass der Bauch uns nicht zu retraumatisierendem Verhalten verleitet). Wenn es uns gelingt, im Alltag immer wieder mal einen verständnisvollen Dialog zu führen, ein Rollenspiel einzuflechten, Außensicht einzunehmen und uns nicht in eine Reinszenierung hineinziehen zu lassen oder im Selbstgespräch in Gegenwart des Kindes deutlich werden zu lassen, dass wir Mitgefühl und Verständnis für seine Lage aufbringen, dann wird dies seine Wirkung zeigen. Ein überhöhter Anspruch, jederzeit nur therapeu-tisch korrekt zu agieren, überfordert und erzeugt zusätzlichen Stress und Schuldgefühle, was letztlich dem Zusammenleben mit den Kindern mehr schadet als nützt. Erfreulich wäre es natürlich, wenn es uns gelänge, die hier beschriebenen Handlungsmöglichkeiten derart zu verinnerlichen, dass sie ein Teil unseres spontanen Verhaltensrepertoires würden und somit automatisch in unser pädagogisches Handeln einfließen. Dies erfordert allerdings viel Übung. Es wäre schön, wenn allen interessierten Pflegeeltern von den Jugendämtern ent-sprechende Schulungen (z.B. in Form von Kursen) angeboten würden.
Bei Fragen oder Interesse an einem direkten Austausch könnt Ihr mich unter meiner e-Mail-Adresse ebelweisser@web.de erreichen.
s.a. Sachgebiet Traumaforschung
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