Im Bereich der öffentlichen Erziehung in Berlin läßt sich eine beunruhigende Entwicklung beobachten: Es zeigt sich ein Problem, ein Ärgernis, manche sagen ein „Notstand“, und man sucht nach Abhilfe und Auswegen. Das Problem: Man ist besorgt über die sogenannten Reglementierungsfälle, die schweren und schwersten Fälle kindlicher und jugendlicher Dissozialität; man weiß nicht, wo man sie unterbringen soll. Der Ausweg: Man überlegt, ob man sie in eine psychiatrische oder psychologische Abteilung oder in eine einzelne abgeschlossene Spezialeinrichtung einweist. Es sei im folgenden versucht, zu dieser Entwicklung in 3 Thesen kritisch Stellung zu nehmen.
1. These: Die öffentliche Erziehung macht einen Fehler, wenn Ihre Reglementierungsfälle zum Problem werden.
Diese These erscheint auf den ersten Blick unverständlich. Man könnte darauf hinweisen, daß es immer Reglementierungsfälle gegeben hat und argumentieren, daß sie folglich nicht der öffentlichen Erziehung anzulasten seien. Die Entwicklung der Berliner Einrichtungen der öffentlichen Erziehung zeigt aber, daß das Verhalten dieser Einrichtungen doch dazu beigetragen hat, die Reglementierungsfälle zum Problem werden zu lassen oder jedenfalls das Problem der Reglementierungsfälle zu verschärfen. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß mehrere Einrichtungen der Berliner öffentlichen Erziehung, die von und vor den Abgeordneten auch oder gerade speziell für solche Reglementierungsfälle eingerichtet worden sind, mittlerweile umstrukturiert oder, um ein Modewort zu gebrauchen, „umfunktioniert“ worden sind. Als Beispiel sei die Entwicklung der abgeschlossenen Abteilungen in den zentralverwalteten Berliner Heimen für schulentlassene Jungen zitiert (vgl. Übersicht). Zentralverwaltete Berliner Heime heißen diejenigen Berliner Heime, „die unmittelbar der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport unterstehen“ (vgl. den sogenannten „Heimbericht“ des Berliner Senats vom 10.9.1970, Drucks. 679, S. 38).
Nach dieser Übersicht wurden 5 zentralverwaltete Heime mit einer abgeschlossenen Abteilung für schulentlassene Jungen versehen, also für die Unterbringung schwierigerer Jugendlicher eingerichtet: 1 Durchgangsheim, das Tag und Nacht für ihre Aufnahme bereitsteht („Jugendhilfsstelle“), 1 Beobachtungsinstitution, die von Fall zu Fall ihre Begutachtung durchführt („Hans-Zulliger-Haus“) und 3 Erziehungsheime, die mit dem eigentlichen Resozialisierungsauftrag betraut sind („Jugendhof“, „Kieferngrund“, „Haus Druhwald“). Übersicht über die Entwicklung der abgeschlossenen Abteilungen für schulentlassene Jungen der zentralverwalteten Heime des Senators für Familie, Jugend und Sport, Berlin
Als abgeschlossene Abt. für schulentlassene Jungen wurden instituiert:
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Funktionsstand am 20.3.1971:
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1 Abgeschl. Abt. im Beobachtungs.-H. „Hans-Zulliger-Haus“
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führt weiter d. abgeschl. U. von Begutachtungsfällen durch
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2 Abgeschl. Abt. im Durchgangs-H. „Jugendhilfestelle“
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umstrukturiert: von d. abgeschl. U. von dissoz. Jugendl. auf d. abgeschl. U. von dissoz. Kindern umgestellt
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3 Abgeschl. Abt. im Erziehungs-H. „Jugendhof“ (Haus IX)
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umstrukturiert: von d. abgeschl. U. von dissoz. Jugendl. auf d. abgeschl. U. von Gerichtsfällen nach § 72 JGG umgestellt
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4 Abgeschl. Abt. im Erziehungs-H. „Kieferngrund“ (Haus I)
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umstrukturiert: von d. abgeschl. U. von dissoz. Jugendl. auf d. offene U. von dissoz. Kindern umgestellt
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5 Abgeschl. Abt. im Erziehungs-H. "Druhwald"
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umstrukturiert: von d. abgeschl. U. von dissoz. Jugendl. auf d. offene U. von dissoz. Jugendl. umgestellt
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Erläuterungen:
Zu 2) Die Umstellung von dissozialen Jugendlichen auf dissoziale Kinder erfolgte, weil diese Kinder von dem für sie bestimmten zentralverwalteten Durchgangsheim („Hauptkinderheim“) nicht aufgenommen werden.
Zu 3) Die Umstellung von dissozialen Jugendlichen auf Gerichtsfälle nach § 72 JGG erfolgte, weil diese Gerichtsfälle von dem für sie bestimmten zentralverwalteten Erziehungsheim („Kieferngrund“, Haus II) nicht aufgenommen werden.
Zu 4) Die Umstellung von dissozialen Jugendlichen auf dissoziale Kinder erfolgte, weil diese Kinder von dem für sie bestimmten zentralverwalteten Erziehungsheim („Stolper Heide“) nicht aufgenommen werden.
Die Klassifikationen „Beobachtungsheim“, „Durchgangsheim“ und „Erziehungsheim“ entsprechen dem sog. „Heimbericht“ des Berliner Senats v. 10.9.1970, Drucks. 679, S.38.
Wie die Übersicht weiter zeigt, nimmt zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts nur noch die Beobachtungseinrichtung ihre Funktion wahr. Die übrigen 4 Einrichtungen stehen nicht mehr zur abgeschlossenen Unterbringung schulentlassener Jungen, d. h. nicht mehr zur Aufnahme schwierigerer Jugendlicher zur Verfügung, wobei die Umstrukturierungen im Bereich dieser Heime teilweise auf weitere Umstrukturierungen im Bereim anderer Heime zurückgehen (vergleiche Erläuterungen zur Übersicht). Die erfolgte Veränderung hat einerseits einen politischen Aspekt: Mit der Umfunktionierung der Heime hat die Exekutive einen Auftrag der Legislative umfunktioniert. Die erfolgte Veränderung hat andererseits einen praktisch-pädagogischen Aspekt: Wenn die Aufnahmemöglichkeiten für die schwierigeren Minderjährigen so reduziert worden sind, dann läßt sich in der Tat feststellen, daß die öffentliche Erziehung selbst dazu beigetragen hat, die Reglementierungsfälle zum Problem werden zu lassen oder jedenfalls das Problem der Reglementierungsfälle zu verschärfen. Es läßt sich sagen, daß die öffentliche Erziehung das, was sie als Notstand deklariert, selbst zum Notstand gemacht hat. Man versteht die Klage eines Jugend- und Vormundschaftsrichters über die Fürsorgeerziehungs-Behörden (FE-Behörden): „Mich bedrückt, wenn sich FE-Behörden für die kriminell verwahrlosten jungen Menschen nicht für zuständig erklären möchten ...1) “
2. These: Die öffentliche Erziehung macht einen Fehler, wenn sie von einer psychiatrischen oder psychologischen Einrichtung die Reglementierung der Reglemetierungsfälle erwartet.
Auch diese These will vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz einleuchten. Es läßt sich auf RASCH verweisen. Rasch schreibt über die sozialtherapeutischen Anstalten: „Nach den Bestimmungen.... sollen die geplanten sozialtherapeutischen Anstalten unter ärztlicher Leitung stehen. Damit ist vom Gesetzgeber... der Gedanke verankert worden, daß die gegen die eingewiesenen Rechtsbrecher zum Zuge kommenden Maßnahmen irgendwie in den Zuständigkeitsbereich des Arztes fallen; von der Aufgabe her versteht sich von selbst, daß der seelenheilkundlich tätige Arzt gemeint ist 2).“ Man könnte meinen: Wenn eine „Medizinalisierung“ (Rasch) des Strafvollzugs erfolgen soll, dann sollte sie auch und erst recht in der Heimerziehung erfolgen. Es lassen sich auch Beispiele dafür anziehen daß Erziehungsheime von Ärzten geleitet werden. Die Überlegung liegt also durchaus nahe, die Reglementierungsfälle dem Psychiater bzw. Psychologen zu überweisen. Aber es gibt doch einen wichtigen Vorbehalt: Die Reglementierungsfälle heißen Reglementierungsfälle, weil sie der Reglementierung bedürfen. Eine öffentliche Erziehung, die Reglementierungen grundsätzlich bejaht, kann sie auch vom Psychiater oder Psychologen fordern. Eine öffentliche Erziehung, die Reglementierungen dagegen grundsätzlich ablehnt, darf sie auch keinem Psychiater oder Psychologen abverlangen. Diese Ablehnung ist aber die vorherrschende Einstellung der öffentlichen Erziehung in Berlin – und nicht nur in Berlin. In dem bereits zitierten „Heimbericht“ des Senats von Berlin heißt es beispielsweise „vom pädagogischen Standpunkt aus betrachtet, ist die abgeschlossene Unterbringung höchst problematisch“. BÄUERLE, dem dieselbe Jugendbehörde zur Eröffnung ihres größten Kinderheimes am 14.11.1968 das programmatische Referat übertragen hatte, will konsequenterweise nur noch zwei Typen von Heimen gelten lassen, das Wohnheim und die heilpädagogische Klinik 3). FICHTNER, Leiter der Abteilung Jugend im BMin. für Jugend, Familie und Gesundheit, fordert schließlich eine „Ersetzung“ der Heimerziehung durch offene und halboffene Einrichtungen, beispielsweise durch Wohngemeinschaften 4). Ich möchte meine Meinung dazu drastisch formulieren: Natürlich kann sich die öffentliche Erziehung um die Reglementierung der Reglementierungsfälle drücken. Aber dann darf sie sie auch nicht an den Psychiater oder Psychologen delegieren. Der Psychiater oder Psychologe dürfte unter solchen Umständen nicht tätig werden, weil er damit die Verleugnungstaktik der öffentlichen Erziehung unterstützt, und er könnte unter solchen Umständen auch schwerlich arbeiten, weil seine Arbeit von vornherein verrufen ist. Zwar wird die öffentliche Erziehung, wenn man sie zu einem Bekenntnis drängt, ihre Verleugnungstaktik in Abrede stellen. Aber solange sie ihre abgeschlossenen Abteilungen eine nach der anderen öffnet oder sich stillschweigend öffnen läßt, wird solche Versicherung nur als ein pures Lippenbekenntnis imponieren und wenig überzeugen.
Besonders bedenklich wird es, wenn die öffentliche Erziehung Ihre Reglementierungsfälle in Anstalten für Geisteskranke abzuschieben versucht, wie es kürzlich in Berlin u.a. im Fall eines 14jährigen Jungen erfolgte. Weil die öffentliche Erziehung mit dem erziehungsschwierigen Jungen nicht fertig wurde, brachte sie ihn unter Berufung auf die Einverständniserklärung der Eltern in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus unter. Mit Recht protestierte die Klinik, daß ein kaum dem Kindesalter entwachsener Junge, der weder geisteskrank noch geistesschwach noch süchtig ist, in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik verwahrt wird.
3. These: Die öffentliche Erziehung macht einen Fehler, wenn sie von einer einzelnen Einrichtung die Reglementierung der Reglementierungsfälle erwartet.
Projekte, die darauf abzielen, die Reglementierung auf eine einzelne Einrichtung zu konzentrieren, sind vor allem aus zwei Gründen zu verwerfen. Zunächst ist gegen eine solche Unterbringung dasselbe Argument vorzubringen, daß bereits gegen die Unterbringung in einer psychiatrischen oder psychologischen Abteilung vorgebracht wurde: Solange die öffentliche Erziehung die Reglementierung denunziert, darf sie sie auch nicht an andere delegieren – weder an psychiatrische bzw. psychologische Institutionen noch an irgendeine andere Institution. Sodann muß ein gewichtiges pädagogisches Argument geltend gemacht werden: Es ist pädagogisch sehr bedenklich, die schwierigsten der Schwierigen in einer Einrichtung zusammenzufassen. Das wird selbst in dem bereits mehrfach zitierten „Heimbericht“ festgestellt: „Es ist in der Regel... darauf zu achten, daß nicht zuviel Minderjährige mit den gleichen Auffälligkeiten in einer Wohngruppe zusammen sind... Ein Kind, bei dem Fortlaufen bereits habituell geworden ist, ist als Einzelfall in einer in dieser Hinsicht gefestigten Gruppe zu verkraften, zwei oder mehr Wegläufer hingegen stecken sich gegenseitig und möglicherweise andere an.“ Die in den zentralverwalteten Berliner Heimen für schulentlassene Jungen früher praktizierte Verteilung erschien da besser: Die Jungen, denen mit den Möglichkeiten der ambulanten Jugendhilfe oder eines Wohnheimes nicht geholfen werden konnte, wurden, sofern sie die öffentliche Erziehung übernahm, in der Regel in den „Jugendhof“, das größte Fürsorgeerziehungsheim der Landesjugendbehörde, eingewiesen. Wer nicht zu halten war, wurde vorübergehend in einem abgeschlossenen Haus des Heimes isoliert. Wer hier Schwierigkeiten bereitete, war – ebenfalls vorübergehend – in einem abgeschlossenen Haus des „Kieferngrundes“ unterzubringen, der als Außenstelle des „Jugendhofes“ fungierte. Wer auch hier unzugänglich blieb, konnte schließlich in das „Haus Druhwald“ verlegt werden, das für sogenannte „Schwersterziehbare“ projektiert worden war. Diese Verteilung hatte nicht nur den Vorteil, daß sie die Gefahren der Induktion (oder „Ansteckung“, wie es im „Heimbericht“ heißt) verminderte; sie hatte auch den Vorteil, daß sie bessere Möglichkeiten zur Ausbildung und Beschäftigung dieser Jungen bot. Was drei Heime an Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen können, dürfte von einem einzelnen Heim schwerlich aufzubringen sein. Last not least ist die größere Verteilung der Reglementierungsfälle auch im Interesse der Erzieher zu fordern. Die Arbeit mit diesen Jugendlichen dürfte – auch wenn sie von der öffentlichen Erziehung aufgewertet wird – so schwierig bleiben, daß sie von allen Heimen mitgetragen werden muß.
Was noch zu sagen bleibt, ist kurz zu sagen:
1. Die öffentliche Erziehung sollte von BERNFELD, dem Pionier antiautoritärer Erziehungsprinzipien, lernen, daß es verschiedene „Typen von Anstaltszöglingen“ gibt und daß für manche von ihnen, nämlich die „hemmungslosen, aggressiven, destruktiven Charaktere“ die Erziehung „in gewissem Sinne sehr streng sein muß“ 5) .
2. Die öffentliche Erziehung sollte diese Reglementierungsaufgaben wieder als einen Bestandteil ihres Auftrags erkennen und akzeptieren. Ein renommierter Literaturkritiker beklagte sich kürzlich darüber, daß unser literarischer Zeitstil durch ein intellektuelles Schisma, eine intellektuelle Unredlichkeit gekennzeichnet sei: „Nur allzu leicht zerfällt die Lesewelt... in einen unfeinen Kontinent stets schlecht rezensierter, aber viel gelesener Kolportagen... und in eine vornehme, sozusagen pädagogische Provinz dessen, was die Experten mit hochgezogenen Augenbrauen rezensieren, aber die Leser nicht lesen wollen6).“ Ein ähnliches intellektuelles Schisma, eine ähnliche intellektuelle Unredlichkeit charakterisiert auch unseren pädagogischen Zeitstil. Es ist schlicht unredlich, auf der einen Seite die reglementierenden Einrichtungen abzuschaffen und auf der anderen Seite darüber zu klagen, daß Reglementierungsfälle auftauchen. THIERSCH verlangt einen „Offenbarungseid der Jugendfürsorge“ und beruft sich auf ein Zitat von MARX: „Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen 7).“ Gewiß ließe sich der älteren Pädagogik mancher Irrtum vorhalten. Doch scheint auch die neuere Pädagogik vor Irrtümern nicht gefeit, wie das Beispiel der Reglementierungsfälle zeigt. Man sollte auch dieser neueren Pädagogik, die sich so gern auf MARX beruft, „keinen Augenblick der Selbsttäuschung gönnen“.
Literatur:
1) Heinen, B.: Erziehungsnotstände – aus der Sicht des Jugend- und Vormundschaftsrichters. Unsere Jugend 22/1970, 401-407.
2) Rasch, W.: Die sozlaltherapeutische Aufgabe: Stellung und Einstellung der Psychiatrie. Kriminolog. Journal, 2/1970, 34-43.
3) Bäuerle, W.: Funktion und Bedeutung der Heimerziehung in einer künftigen Jugendhilfe. Soz. Arb. 19/1970, 317-323.
4) Fichtner, O.: Aktuelle Aufgabe der Abt. Jugend im Bmin. Für Jugend, Familie und Gesundheit. NDV, 51/1971, 1-4.
5) Bernfeld, S.: Psychische Typen von Anslaltszöglingen. In: S. Bernfeld: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, ausgewählte Schriften, Bd. 1. Darmstadt: März-Verlag, 1969.
6) Kaiser. J.: Was zum Lesen – bitte! Süddeutsche Ztg. Literatur-Beilage v. 12.11.1970.
7) Thiersch, H.: Verwahrlosung. Neue Sammlung, 7/1967, 390-406.
aus SOZIALE ARBEIT, Heft 4/1971
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