FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2001

 

Biografiearbeit mit Pflegekindern

Diplomarbeit zur Erlangung des Grades
eines Diplomsozialarbeiters/Sozialpädagogen
an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik
“Alice Salomon”

von Ivo Stephan (Okt. 00)
(zurück zu Teil 2)

 

.......
C. Erfahrungen in der Biografiearbeit mit Pflegekindern

......

V. Biografiearbeit mit David
1. Dokumentation
1.1. Beispiel A
1.2. Beispiel B
1.3. Beispiel C

D. Generalisierende Auswertung

E. Zusammenfassung

F. Literaturverzeichnis

Anhang

 

V. Biografiearbeit mit David

Die Biografiearbeit mit David begann schon, bevor er in unsere Pflegefamilie aufgenommen wurde. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und um zu verdeutlichen, wie kleinschrittig sich Biografiearbeit mit Pflegekindern oft gestalten muß, werde ich wie in meinem Alltagsgebrauch die einzelnen Elemente, die ich mit David bearbeitet habe, tagebuchartig dokumentieren.

1. Dokumentation
1.1. Beispiel A

19.04.1997
David ist heute das zweitemal für ein Wochenende bei uns. Aus vorangegangenen Gesprächen wußte ich, wieviel bzw. wenig er über den Tod seiner Mutter erfahren hatte. Ich stellte etwas befremdet fest, daß er über seinen Vater nicht einmal wußte, daß es ihn noch gibt.

Heute ergab sich eine Situation, die ich für günstig erachtete, um ihm zu erzählen, was ich über seinen Vater gehört hatte. Das Gespräch verlief in etwa wie folgt:

I.: Frau M. vom Jugendamt hat mir neulich erzählt, daß sie Deinen Vater ausfindig gemacht haben.

D.: Lebt er also doch noch? Im Heim haben sie nie was von ihn erzählt!

I.: Ja, er lebt noch, aber nicht hier in der Nähe. Sicher hat man Dir im Heim nichts von ihm erzählt, weil Deine Mutter nicht wollte, daß er Kontakt zu Euch hat. Sie hatte sich doch von ihm getrennt, weil da einiges nicht so gut lief mit ihm. Erinnerst Du Dich noch daran?

D.: (Schüttelt den Kopf) Weiß auch nicht, wie Papa aussieht.

I.: Na er ist jedenfalls noch da und hat sich auch beim Jugendamt gemeldet.

D.: Dann kanne doch bei Papa wohnen!

I.: Nun, das ist nicht so einfach. Ihr habt Euch viele Jahre nicht gesehen. Du sagst ja selbst, daß Du nicht einmal weißt, wie der Papa aussieht. Vielleicht möchte der Papa das auch gar nicht, oder er gefällt Dir nicht, wenn Du ihn kennenlernst.

D.: (wird nachdenklich und wechselt dann das Thema.)

25.04.1997
Als ich David heute aus dem Heim abholte, machte mir die anwesende Erzieherin berechtigte Vorwürfe, daß ich ihm von seinem Vater erzählt hatte. Er hätte die ganze Woche „rumgenervt“ und jedem davon erzählt, daß er ja vielleicht bei seinem Papa wohnen könne.

26.04.1997
Heute Abend war noch einmal Gelegenheit, mit David unser Gespräch der letzten Woche über seinen Vater aufzugreifen. Es hat verständlicherweise sein Gemüt bewegt und Phantasien in ihm ausgelöst - ein meiner Ansicht nach wichtiger Beginn, sich mit seiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen.

I.: Frau Z. erzählte mir gestern, daß Du Dir Gedanken darüber machst, ob Du vielleicht doch bei Deinem Papa wohnen könntest. Nun haben wir uns ja kennengelernt, weil Du vielleicht zu uns kommen und mit uns leben möchtest. Und ich habe dir letzte Woche erzählt, daß ich noch gar nicht weiß, ob Dein Papa Dich überhaupt aufnehmen kann und möchte. Denkst Du, daß wir uns trotzdem weiter treffen sollten?

D.: Ja! Aber wenn es geht, möchte doch lieber bei Papa wohnen.

I.: Das verstehe ich. Dann schlage ich Dir vor, daß ich versuche, noch mehr über Deinen Papa in Erfahrung zu bringen und wir lernen uns trotzdem erstmal weiter kennen, einverstanden?

D.: Ja!

Damit war das Thema dann vorerst wieder beendet.

02.05.1997
Heute fragte David nach, ob ich schon mehr über seinen Papa herausbekommen hätte. Ich verneinte und versicherte ihm, daß sich Frau M. vom Jugendamt bei mir melden würde, sobald sie neue Informationen hätte. Er war nicht ganz zufrieden, nahm die Nachricht aber so hin.

10.05.1997
Wie erwartet, kam David von selbst wieder auf seinen Vater zu sprechen. Ich hatte inzwischen mit Frau M. telefoniert. Sie bestärkte mich darin, mich mit David über seinen Vater auseinanderzusetzen, unabhängig von der ablehnenden Haltung der Heimerzieherinnen. Einige neue Informationen hatte sie auch für mich, die ich David dann auch gleich weitergab.

I.: Also ich habe von Frau M. gehört, daß der Papa im Moment keine Arbeit hat. Und er hat auch sonst einige Probleme, bei denen er selbst Hilfe braucht.  

D.: Kanne ihn denn mal besuchen?

I.: Das wird wohl vorläufig nicht gehen. Denn wie ich Dir schon erklärt habe, kennt ihr euch ja eigentlich gar nicht, und er wohnt nicht in der Nähe. Da müssen wir erstmal sehen, was der Papa überhaupt will.

In den nächsten Wochen kam David nicht mehr auf den Vater zu sprechen.

04.07.1997
In der Zwischenzeit hat sich eine völlig neue Entwicklung um den Vater abgezeichnet. Ich wurde darüber informiert, daß der Vater einen Sorgerechtsantrag für seinen Sohn gestellt hat, dem aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht entsprochen werden wird. Dennoch wurde mir nahegelegt, mit David über diesen Sachverhalt zu sprechen, da er möglicherweise vor Gericht erscheinen und seine Wünsche äußern müsse.

06.07.1997
Heute gab es die Gelegenheit, mit David über den Antrag des Vaters zu sprechen.

I.:  Wir haben ja schon eine Weile nicht mehr über Deinen Papa gesprochen. Aber weil Du heute selbst das Thema wieder angesprochen hast, möchte ich mit Dir eine wichtige Sache besprechen. Dein Papa hat beim Gericht einen Sorgerechtsantrag für Dich gestellt. Das bedeutet, daß er dann so für Dich verantwortlich wäre, wie früher Deine Mutter. Was sagst Du dazu?

D.: Kanne dann doch bei Papa wohnen?

I.: Das kann ich Dir nicht beantworten. Es bedeutet jedenfalls, daß darüber jetzt ein Gericht entscheiden muß. Und damit die das entscheiden können, fragen die dann Deinen Papa, wie er sich das vorstellt mit Dir. Und die fragen alle Leute, die Deinen Papa kennen, ob sie meinen, daß er das kann. Und nun weiß ich von Frau M., daß die Leute, die ihn kennen, sich da ein bißchen Sorgen machen, daß er das nicht schafft, weil er doch selbst so viele Probleme hat.

D.: Aber da kanne dem Papa doch helfen! Wenn es geht, möchte bei Papa wohnen.

I.: Das finde ich ganz lieb von Dir, daß Du dem Papa helfen möchtest. Aber du mußt doch jetzt erstmal für Dich sorgen. Du wohnst jetzt gerade eine Woche bei uns. Wir müssen uns aneinander gewöhnen. Du hast schon gemerkt, daß es anders ist, als in der Zeit, wo Du nur zu Besuch warst. Dann kommt bald noch die neue Schule. Und der Papa müßte doch dann für Euch beide sorgen. Denn er ist schon erwachsen und da muß er seine Probleme selbst lösen.

D.: Ja und wir fahren ja gleich in Urlaub!

I.: Genau und da sind wir doch alle schon gespannt, was uns da erwartet.

25.09.1997
Durch die Ferien und den Schulbeginn in der neuen Schule war der Vater jetzt doch lange nicht so wichtig. Heute erinnerte sich David aber doch wieder an seinen Vater und unsere Gespräche.

D.: Wie lange ist es jetzt eigentlich noch bis zum Gericht?

I.: Das kann ich Dir nicht beantworten. Bisher habe ich noch nichts Neues gehört. Aber sobald sich da etwas tut, werde ich es Dir sagen.

D.: Und wenn mich einer fragt, möchte aber doch lieber zu Papa.

I.: Das solltest Du Dir genau überlegen. Denn wir haben ja schon einmal darüber gesprochen, daß ihr euch gar nicht kennt. Dein Papa weiß nicht, wie Du jetzt aussiehst und wie Du bist und Du weißt das von Deinem Papa auch nicht. Was stellst Du Dir denn vor, was sich verändern würde, wenn Du bei Papa wohnst?

D.: Na wir spielen zusammen, und er kümmert sich um mich.

I.: Aber Du lebst jetzt bei uns, bist hier gerade ein bißchen angekommen und dann müßtest Du noch einmal ganz von vorn anfangen. Du müßtest wieder umziehen, in eine neue Schule und wieder neue Freunde finden. Hier hast Du auch jemanden, der sich um Dich kümmert und mit Dir spielt. Aber ich will Dir nichts ausreden. Du solltest nur genau darüber nachdenken.

D.: Ja, aber zu Papa wär doch besser.

I.: Na gut, dann warten wir jetzt erstmal ab, wann wir vom Gericht Bescheid bekommen.

In den folgenden Wochen gab es noch einige ähnlich gelagerte Gespräche, die ich hier nicht alle wiedergeben werde.

06.12.1997
Heute traf die Mitteilung der Vormündin ein, daß der Anhörungstermin zum Sorgerechtsantrag des Vaters für den 15.01.1998 festgesetzt worden war. Am Abend sprach ich mit David über das Schreiben.

I.: Heute habe ich von Deiner Vormündin Frau R. einen Brief bekommen, in dem der Termin für unseren Gerichtsbesuch drinsteht. Wir werden also gleich nach den Weihnachtsferien, am 15.Januar nach O. fahren.   

D.: Und sehe ich dann mein Papa?

I.: Ja, dann wirst Du ihn sehen. Und möglicherweise wird Dich die Richterin dann auch fragen, was Du möchtest.

D.: Aber ich will dort nichts sagen, das traue ich mir nicht.

I.: Das verstehe ich schon, es ist ja eine fremde Frau. Aber ich werde dabei sein und Frau R., die Vormündin kennst Du ja auch. Und die Richterin soll doch dann entscheiden, wo Du am besten aufgehoben bist.

D.: Kann ich da sagen, daß ich zu Papa will?

I.: Wenn Du das noch immer willst und Dir das gut überlegt hast, kannst Du das sagen. Aber Dir muß auch klar sein, daß Du das nicht allein entscheiden wirst. Die Richterin hört sich eben noch Leute an, die Deinen Papa kennen. Und Dir muß auch klar sein, daß Du dann nicht mehr einfach sagen kannst, ich will jetzt woanders hin, falls es Dir dann bei Papa mal nicht gefällt.

15.01.1998
Die vergangene Nacht hatte David vor Aufregung kaum geschlafen.

Vater und Sohn begegneten sich auf dem Flur des Gerichtsgebäudes sehr vorsichtig und distanziert. Es fand erst einmal eine lockere Unterhaltung zwischen den beiden und dem Pflegevater statt.

Dann wurde der Vater als erster zur Anhörung gebeten, während Pflegevater und David auf dem Flur warteten.

Der Termin verlief dann mit einer plötzlichen Wendung, da der Vater während der Anhörung seinen Sorgerechtsantrag zurückgezogen hatte.

David wurde zwar ebenfalls noch von der Richterin befragt. Die Fragen bezogen sich aber ausschließlich auf seine aktuelle Situation in der Pflegefamilie.

Zum Abschluß der Anhörung wurden Vereinbarungen zum Umgang zwischen Vater und Sohn getroffen: telefonischer Kontakt sollte ermöglicht werden, der Vater sollte in regelmäßigen Abständen durch den Pflegevater über die Entwicklung des Jungen unterrichtet werden, briefliche Kontakte könnten fortgesetzt werden und bei Interesse des Vaters an weitergehenden Kontakten, sollte das Jugendamt als Vermittler eingeschaltet werden.

Im Anschluß an die Anhörung hatten Vater und Sohn noch einmal Gelegenheit, sich ein wenig zu unterhalten. Der Vater erklärte David ausführlich seine Entscheidung, den Antrag zurückzunehmen.

David war mit dem Ergebnis der Anhörung sehr zufrieden. Er war weder bedrückt noch enttäuscht darüber, daß er nun nicht zu seinem Papa ziehen würde.

In der folgenden Zeit gab es einige Telefonate (ca. ein bis zwei pro Woche) zwischen den beiden. Briefe ließ David meistens unbeantwortet, weil er nicht gut schreiben konnte und auch nichts malen mochte.

Den zweiten und bisher letzten persönlichen Kontakt zu seinem Vater hatte David an seinem Geburtstag, zu dem er ihn eingeladen hatte. In Absprache mit dem Jugendamt kam dieser zwei Stunden vor den anderen Gästen, um etwas Zeit mit David verbringen zu können und ging dann auch bald, nachdem die ersten Gäste kamen.

David wurde überhäuft mit Geschenken, für deren Beschaffung der Vater offenbar schon lange vorher gespart hatte. Die gemeinsame Zeit verging mit dem Anschauen und Zusammenbauen der mitgebrachten Autobahn und des ferngesteuerten Autos.

Seit dem Geburtstag im März ebbte die Zahl der Briefe und Telefonate mehr und mehr ab. Seit November 1998 besteht zwischen David und seinem Vater kein Kontakt mehr. David erwähnt ihn sehr selten.

David hat mittlerweile mehrfach – nicht nur durch seinen Vater – erfahren müssen, daß Kontakte zu Angehörigen seiner Herkunftsfamilie nicht dauerhaft, verläßlich und regelmäßig sind. Diese Erfahrung tut ihm weh, hat David aber enorm geholfen, ein realistischeres Bild von seiner Familie zu erhalten und sich auf verläßlichere Kontakte in seinem neuen Lebensumfeld einlassen zu können. 

David vertritt nach außen sehr selbstbewußt seinen Status als Pflegekind. Er ringt nicht mehr um die Anerkennung seiner Herkunftsfamilie und konnte zumindest einen Teil seiner Schuldgefühle für die entstandene Situation ablegen.

1.2. Beispiel B

15.03.1999
Nachdem einige Gespräche über den Tod der Mutter und darüber, daß David bei ihrer Beerdigung nicht dabei war, vorausgegangen waren, waren wir für morgen  Nachmittag mit seiner Tante, Frau W., verabredet, um zum Grab von Davids Mutter zu fahren.

Ich sprach mit David am Abend über den bevorstehenden Friedhofsbesuch.

I.: Morgen hast Du nun endlich Gelegenheit zu sehen, wo Deine Mutter beerdigt wurde. Hast Du bestimmte Vorstellungen, wie wir diesen Besuch gestalten wollen?

D.: Ich will Blumen mitnehmen. Und sonst weiß ich nicht.

I.: Du hattest ja bisher keine Gelegenheit, Dich richtig von Deiner Mutter zu verabschieden. Sie ist damals sehr plötzlich gestorben und bei der Beerdigung durftest Du nicht dabei sein. Möchtest Du vielleicht morgen die Gelegenheit nutzen, um Deiner Mutter noch irgendetwas zu sagen?

D.: Ja, daß es mir gut geht und daß ich sie in dem Stern sehe, den ich mir ausgesucht habe, damit ich mir mit ihr unterhalten kann.

I.: Ich könnte mir vorstellen, daß sich Mutti darüber freut. Gibt es noch etwas?

D.: Weiß nicht.

I.: Nun ich will Dir jetzt nichts einreden. Du kannst ja nochmal drüber nachdenken. Ich wollte Dir nur sagen, daß du morgen Gelegenheit dazu hast und daß Du Dich ruhig trauen kannst, auch wenn es Dir vielleicht ein bißchen komisch vorkommt.

16.03.1999
Nach der Schule holte ich David ab, um mit ihm nach V. zu fahren, wo seine Tante wohnte und sich auch das Grab der Mutter befindet. Frau W. fuhr mit David in ihrem eigenen Auto und ich folgte ihr.

Ich hatte mit David Blumen gekauft, die er am Grab seiner Mutter ablegen wollte.

Auf dem Friedhof angekommen, gingen wir zum Grab und Frau W. war sofort damit beschäftigt, die alten Blumen zu beseitigen und das Grab in Ordnung zu bringen. Da das Glas, welches als Vase diente, entzwei gegangen war, besorgten David und ich in der Zwischenzeit eine neue Vase aus der Friedhofsgärtnerei. Wir sprachen wenig.

Als wir mit der Vase zurückkamen, war Frau W. indessen mit der Grabpflege fertig. Sie begann ein „Gespräch“ mit David etwa folgenden Inhalts:

Frau W.: So, nu isset wieda schön. Ick komme ja ooch nich so oft her. Aba jetzt wo de weeßt, wo det Jrab is, kannste ja selber ab und zu mal nachn Rechten sehn. Deine Schwester läßt sich ja hier ooch nich blicken. Mit der hab ick sowieso viel Ärger jehabt und die läßt sich ja nischt sagen.

D.: (Schweigt erst, dann): Hm!

Frau W.: Und an Dein Vata is jarnich zu denken. Den hab ick sowieso jefressen.

(zu mir gewandt) Und wie jeht det so mit David?

I.: Oh, er ist ein toller Junge.

Frau W.: Ick holn bestimmt in de Ferien mal wieda ab.

I.: Da freut sich David sicher.

Frau W.: Na da könn‘ wa ja jetzt wieda jehn, ick hab nämlich mit meiner Schwester verabredet, det wir da noch zum Kaffe hinfahrn. Soviel Zeit ham se doch noch, oda?

I.: Ja, sehr gern! Aber wir würden gern noch einen Moment hier bleiben. Sie können gern schon vorgehen! Wir kommen dann gleich nach.

Frau W.: Na wenn se meinen. (Geht.)

Nachdem die Tante sich etwas entfernt hatte, ermutigte ich David, nun die Gelegenheit zu nutzen, seiner Mutter noch etwas zu sagen. Als ich merkte, daß er zögerte, bot ich ihm an, auch schon vor zu gehen, damit er allein sein könne. Das wollte er aber nicht.

Ich spürte, daß ihn die Worte der Tante getroffen hatten, und daß er deshalb blockiert war. Er konnte das aber nicht sprachlich ausdrücken. Also schlug ich ihm vor, nun, da wir wüßten, wo das Grab sei, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ohne die Tante herzukommen. Diesen Vorschlag nahm er dankbar an.

30.09.1999
Einige Wochen war ein erneuter Besuch am Grab der Mutter für David kein Thema. In einem Gespräch am Tag nach dem ersten Friedhofsbesuch bestätigte sich jedoch mein Gefühl, daß David von den Worten der Tante betroffen war, und daß es ihm deshalb peinlich war, eine Abschiedszeremonie zu zelebrieren, wenn sie in der Nähe war.

Heute hatten wir nun Gelegenheit, das Grab ohne die Tante aufzusuchen. Diesmal war David nach anfänglichen Hemmungen in der Lage, seiner Mutter zu sagen, was ihm wichtig war. Ich erleichterte ihm den Einstieg, indem ich ihr selbst einiges über David erzählte.

I.: Hallo Frau X., ich bin heute mit David hierher gekommen, damit er sich von ihnen verabschieden und noch etwas sagen kann. Leider ist es uns nicht früher gelungen. Aber nun sind wir da, und ich möchte ihnen sagen, was für ein großartiger Junge ihr Sohn ist. Ich bin sehr froh darüber, daß er bei mir leben darf und ich denke, sie wären sicher auch einverstanden damit. Aber nun soll David zu Wort kommen.

D.: (zögert.) Hallo Mutti! Ich wollte Dir nur sagen, daß es mir gut geht. In der Schule geht es auch gut. Ich hab Dir Blumen mitgebracht. Bestimmt freust Du Dich darüber. Ich vermisse Dich und bin traurig, daß ich Dich nicht mehr sehen kann. Aber Du guckst ja immer zu mir runter und kannst sehen, was ich mache. (lächelt.)

I.: Möchtest Du ihr noch von dem Stern erzählen?

D.: Ach ja! Ich sehe Dich auf einem Stern, den ich abends von unserm Balkon aus anschauen kann. Dann stell‘ ich mir manchmal vor, daß Du mir zublinkst. Also dann tschüß Mutti. Wir kommen mal wieder her. (schaut mich an.)

I.: Ja, Frau X. Das ist ihr Sohn. Ist doch toll, was aus ihm geworden ist? Na dann bis zum nächstenmal!

Wir stellten ihr dann die Blumen in die Vase und blieben noch einen Moment schweigend stehen, bis David mich drängte, zu gehen.

Auf dem Heimweg war er sichtlich erleichtert, fast beschwingt. Und sagte mir dann halb fragend, daß sich Mutti bestimmt über unseren Besuch gefreut hat. Das bestätigte ich ihm.

Diese kurze Episode, die vielleicht 10-15 Minuten gedauert hatte, war für Davids Verhältnis zum Tod seiner Mutter äußerst wichtig.

Er hatte nicht verstehen können, weshalb er an der Beerdigung seiner Mutter nicht teilnehmen durfte. Und dieser Fakt belastete ihn, was in Gesprächen auf Umwegen immer wieder zum Ausdruck kam.

Den „Muttistern“, wie wir ihn nannten, benötigte David nach diesem Besuch nur noch sehr selten. Er war nun bereit, den Tod der Mutter als etwas Gegebenes hinzunehmen und nicht mehr, wie es zeitweise geschah, über sie zu sprechen, als wäre sie noch am Leben.

Weiterhin veranlaßte ihn dieser Besuch, sich noch tiefergehend mit seiner Biografie auseinanderzusetzen. Er drängte mich, einen von mir vor längerer Zeit angeregten Vorschlag aufzugreifen und in die Tat umzusetzen. Darüber wird im folgenden Beispiel berichtet.

1.3. Beispiel C

05.10.1999
Da Devin heute bei einem Freund zum Geburtstag eingeladen war, hatte ich Gelegenheit, mit David ein „Lebenshaus“ anzufertigen.

Ich hatte ihm vor längerer Zeit, selbst angeregt durch eine Supervisionssitzung, vorgeschlagen, mit den Polaroidfotos, die er noch aus seiner Vergangenheit übrig behalten hatte, einen „Lebensbaum“ oder ähnliches zu gestalten. Ziel dieses „Lebensbaumes“ war es, mit David etwas Sichtbares aus seiner Vergangenheit zu produzieren, das ihm jederzeit zugänglich sein würde, ihn erinnern aber auch zur Auseinandersetzung anregen sollte.

Es sollten alle Personen darin vorkommen, die nach seiner Erinnerung eine Rolle in seinem Leben gespielt hatten. Er sollte Gelegenheit haben, sich an Eigenschaften dieser Personen bzw. an gemeinsame Erlebnisse zu erinnern, die ich für ihn aufschrieb.

Er entschied sich, lieber ein Haus, statt eines Baumes zu zeichnen und die Fotos in die Fenster zu kleben. Wir begannen im Erdgeschoß mit seinen leiblichen Eltern und seiner Schwester. Während wir die Fotos aufklebten, erinnerte er sich plötzlich, daß er auch seine Großeltern mütterlicherseits kennengelernt hatte. Ich bat ihn zu erzählen, woran er sich noch erinnern konnte. Die Aussagen möchte ich hier wörtlich wiedergeben:

„Oma lag immer im Bett und war ganz dick, hatte ein riesenfetten Arsch. Opa hatte ein bißchen Macke-Macke und hat mir manchmal Geld geschenkt. Ich hab ihn auch manchmal in der Gaststätte gesehen, wo ich mit Mutti hingegangen bin.“

David erzählte das mit einem Lächeln, aber seinem Ton war zu entnehmen, daß diese Erinnerungen ihm keine Freude bereiteten.

Zum näheren Verwandtenkreis nannte David nur seine Tante, Frau W., die öfter bei ihnen gewesen sei.

An eine Nachbarin erinnerte er sich aufgrund eines Fotos, das bei ihr aufgenommen worden war. Er kommentierte die Besuche dort wie folgt:

„Die Nachbarn waren sehr lieb, haben mir immer Schokolade gegeben. Und manchmal haben wir dort Kaffee getrunken und viel Fern gesehen. Die Nachbarin hat mich manchmal gefragt, was ich werden will.“ 

An ein befreundetes Ehepaar der Mutter erinnerte sich David auch. Es waren die Diakone des Ortes mit ihren beiden Kindern. Über sie schrieben wir ins „Lebenshaus“:

„M. – wo wir manchmal waren und die Mutti geholfen haben.“

Dann kamen wir zur Scheidung der Eltern. David erinnerte sich mit folgenden Worten an die Situation:

„Papa war einfach weg, ich wußte nicht wohin. Bis ich mal fragte. Mama sagte: ‚Ich möchte nicht darüber reden.‘ Und das hat sie dann auch nie gemacht.“

Danach folgte Davids Leben im Heim. Über seine Unterbringung dort sagte er mir:

„Wie ich ins Heim kam, weiß ich nicht mehr.“

Die Namen seiner ErzieherInnen wußte David alle. Bis auf eine Erzieherin wurden alle mit „Tante“ angesprochen. Zu seiner Bezugserzieherin sollte ich folgendes schreiben:

„Sie war meine erste Erzieherin. Ihr wollte ich manchmal die Haare schneiden.“

Von Bedeutung im Heimleben war für David auch die Hauswirtschaftskraft, die sich in besonderer Weise um ihn kümmerte:

„Sie hat mich manchmal am Wochenende mit zu sich nach Hause genommen.“

Zwei weitere ErzieherInnen wurden noch mit der Erinnerung an gemeinsame Fahrradtouren bedacht. Alle anderen Personen wurden namentlich, ohne Eigenschaften oder Erlebnisse aufgeschrieben.

In das Dach des Hauses klebten wir ein Foto von Devin und mir, sozusagen als letzte Station seines bisherigen Lebens.

Während der gesamten Arbeit war David sehr konzentriert, aber auch distanziert etwa so, als würden wir dieses Haus über das Leben eines anderen Menschen gestalten. Lediglich die genaue Beobachtung seiner Mimik oder seines Tonfalles ließ bei der Schilderung einzelner Erinnerungen seinen Gefühlszustand erkennen.

Dennoch war diese Arbeit ein wichtiger Baustein zur Stabilisierung einer neuen Identität. In der Folgezeit hatte er mehrfach Gelegenheit zu erleben, wie Besucher unserer Familie sein „Lebenshaus“ betrachteten, würdigten und mit ihm darüber – also über sein Leben – ins Gespräch kamen. Diese Erfahrung war m.E. für David selbstbewußtseinssteigernd, weil er erlebte, daß nicht nur ich ihn für einen achtens- und liebenswerten Menschen halte, sondern auch andere, die nicht so eng mit ihm verbunden sind.

Diese Beispiele verdeutlichen den Wert der Biografiearbeit für die Identitätsbildung bzw. –korrektur. Die Veränderungen, die sich mit David nach dieser Arbeit vollzogen haben, seien hier noch einmal zusammengefaßt:

  • Anerkennung der Realität,
  • Abbau von Schuldgefühlen gegenüber der Herkunftsfamilie,
  • selbstbewußteren Umgang mit dem Status als Pflegekind,
  • veränderte Fremdwahrnehmung und
  • Mut, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. 

D. Generalisierende Auswertung

In Auswertung dieser Arbeit werden nun verallgemeinernde Aussagen und spezielle Empfehlungen zu den behandelten Themenkomplexen gegeben.

Für die Entwicklung einer gesunden Identität sind für Kinder, nach Schmalohr, vor allem persönliche, einzigartige Beziehungen notwendig, die ihnen, neben Nahrung und pflegerischer Versorgung, Körperkontakt und liebevolle Zuwendung bieten. Sie sind in ihrer Brauchbarkeit davon abhängig, so Erikson, ob sie den Erfordernissen der jeweiligen Reifungsphase des Kindes und der Art und Weise entsprechen, in der das Kind sie annehmen kann (vgl. Kap. 2.4. Verlaufsmuster, IV. Psychologisches Grundkonzept).

Jedes Kind, so Erikson weiter, muß die Chance haben, sich durch eine Anzahl von Möglichkeiten mehr oder weniger versuchsweise mit realen oder phantasierten Menschen beiderlei Geschlechts, mit ihren Gewohnheiten, Zügen, Ideen und Berufen zu identifizieren. Auf diese Weise kann es seine eigene Identität durch Beobachten, Nachahmen, Phantasieren, Probieren, in Verbindung mit der Sicherheit der oben erwähnten einzigartigen Beziehungen, entwickeln (vgl. Kap. IV. Psychologisches Grundkonzept).

Das Kind muß die emotionale Sicherheit haben, daß es gut ist, in der Familie zu leben, in die es hineingeboren wurde. Neben dieser Sicherheit und der Entwicklung immer neuer Fähigkeiten gehört zum Selbstgefühl des Kindes die Vorstellung von einer erreichbaren Zukunft (vgl. Kap. IV. Psychologisches Grundkonzept). Das heißt, dem Kind muß es angst- und vorurteilsfrei möglich sein, Phantasien über sein weiteres Leben zu entwickeln.  

Diese Möglichkeiten sind Kindern, die in verwahrlosenden Verhältnissen aufwachsen, nicht gegeben. Sie sind in besonderer Weise in ihrer Identität bedroht.

Verwahrlosung ist durch eine Vielzahl asozialer und antisozialer Merkmale charakterisiert, die Hartmann aus der Forschungstätigkeit von S. und E. Glueck für die deutsche Verwahrlosungsforschung konkretisiert hat (vgl. Kap. 2.1. Signifikante Merkmale).

Aus der Arbeit mit verwahrlosten Jugendlichen entwickelte Eberhard drei Gruppen von Merkmalssyndromen verschiedenartiger Ausprägung. Diese bezeichnete er als „Instabilitätssyndrom“, „Asozialitätssyndrom“ und „Kriminalitätssyndrom“.
(vgl. Kap. 2.2. Merkmalssyndrome)

Epidemiologisch läßt sich Verwahrlosung ausnahmslos auf Familien der Unter- bzw. unteren Mittelschicht eingrenzen. (vgl. Kap. 2.3. Epidemiologie)

Mutmaßlich wird die weitere Entwicklung von Kindern aus verwahrlosenden Verhältnissen ebenso problematisch verlaufen. Sie werden als Erwachsene erhebliche Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen haben. Denn schon Heime und  Pflege- und Adoptivfamilien  sind häufig mit der Betreuung verwahrloster Kinder und Jugendlicher überfordert, wenn sie nicht gezielte fachliche Unterstützung erhalten (vgl. Kap. 2.5. Prognose).

Hauptursachen für die prognostizierten Schwierigkeiten sind

  • zahllose Negativerlebnisse im Verlaufe ihrer Kindheit;
  • Verdrängung von Teilen ihrer Kindheit in deren Folge eine verdunkelte Identität entstand;
  • Häufige Bezugspersonenwechsel und eine daraus entstandene mehrfach gebrochene Identität.

Sie sind, nach Eberhard, der Deprivationstheorie zuzuordnen, die Lieblosigkeit und Vernachlässigung, oft verbunden mit groben Mißhandlungen, als die wichtigsten Determinanten früher Depressionen und späteren Sozialversagens herausstellt (vgl. Kap. 2.4. Verlaufsmuster, 1.3. Soziologische Erklärungen).

Weitere Ursachen der Verwahrlosung wurden untersucht. Der Einfluß biologischer Faktoren und hier speziell der Vererbung, kann, nach Hartmann, nicht begründet werden, ohne die Berücksichtigung von Umwelteinflüssen. Auch die Untersuchung psychologischer Ursachen weist auf körperliche und seelische Verkümmerung infolge Fürsorgemangels  hin. Der Einfluß von Führungsmängeln oder Konflikten spielt dem gegenüber eine untergeordnete Rolle (vgl. Kap. II. Ursachen der Verwahrlosung)

Wenn Fürsorgemängel die Hauptursache in verwahrlosenden Familien darstellen, müssen pädagogische und therapeutische Hilfen in einem Netzwerk zusammen wirken, um bei der Komplexität des Erscheinungsbildes der Verwahrlosung zu einem Behandlungserfolg kommen zu können (vgl. Kap. 2.1. Pädagogische und therapeutische Hilfen). Der Erfolg wird allerdings ausbleiben, wenn das Kind weiter in den verwahrlosenden Zusammenhängen lebt.

Um Verwahrlosungserscheinungen präventiv begegnen zu können, wäre häufig die Herausnahme des Kindes aus der Ursprungsfamilie angezeigt. Die gesetzliche Grundlage gibt aber familienerhaltenden Maßnahmen den Vorrang vor der Fremdunterbringung. Dennoch sind erstere häufig erfolglos, wenn es um Verwahrlosung geht. Alternativ zur rechtlichen Lage bietet sich dann die Sekundärprävention an, wie sie im IPP als Intervention vor Chronifizierung von asozialen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen praktiziert wird. Die Ergebnisse aus dem Erfahrungsbericht des IPP geben dieser Präventionsstrategie Recht (vgl. Kap. 2.2. Präventive Reaktionen).

Eine Form der Hilfe in der Sekundärprävention kann die in dieser Arbeit beschriebene Biografiearbeit sein. Sie wird nach meiner Erfahrung nur erfolgreich sein, wenn man ihre Methoden kennt und sich in der Arbeit mit dem Kind von seiner Wahrnehmung  und seinen Fragestellungen leiten läßt. Einige Merkmale sind anhand von Literatur der Autoren Colapinto und Aichhorn zusammengetragen worden. Mögliche Fragen, die das Kind sich stellt und die deshalb Bestandteil der Biografiearbeit sein sollten haben Ryan und Walker  aufgeworfen (vgl. Kap. III. Typische Merkmale der Biografiearbeit... und V. Spezielles Konzept zu den Wirkmechanismen der Biografiearbeit).

Als einen hilfreichen Arbeitsrahmen bei der Umsetzung von Biografiearbeit habe ich die im Intensivpädagogischen Programm angewandte Aktionsforschung erlebt. Ihre erkenntnitheoretische Bedeutung war mir bereits aus meinem Grundstudium geläufig, insbesondere ihre glaubwürdigkeitssteigernde Wirkung (vgl. Kap.VII. Erkenntnistheoretische Einordnung und Bewertung).

Die Erfahrung, daß Biografiearbeit mit psychisch traumatisierten Pflegekindern nur durch ein gewachsenes Vertrauensverhältnis möglich wird, ist für mich prägend. Dieses Vertrauen zu erringen, ist bei Kindern, die in verwahrlosenden Verhältnissen aufwuchsen, äußerst schwierig, da sie von Urmißtrauen statt Urvertrauen geleitet werden (vgl. Kap. 2.1. Signifikante Merkmale, 2.4. Verlaufsmuster, V. Spezielles Konzept zu den Wirkmechanismen der Biografiearbeit).

In diesem Zusammenhang half mir, daß ich mit den Pflegekindern lebe, mit denen ich Biografiearbeit mache. Der Vorteil liegt in der Möglichkeit,  eine aktuelle Situation, in der das Kind sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, für die Arbeit mit ihm nutzen zu können (vgl. 1.1. Beispiel A ) sowie in der bereits entstandenen Vertrauensbeziehung.

Die Erfahrungen meiner Kommilitonin, die in eine Pflegefamilie ging, um mit dem Kind Biografiearbeit zu machen, bestätigten meine Beobachtung. Sie hatte lange Zeit um das Vertrauen dieses Kindes zu ringen und erlebte es auch dann als sehr zurückhaltend und verletzbar. In dieser Situation werden eher „kontrollierte“ Auseinandersetzungen mit der Biografie des Kindes möglich sein (vgl. 1.2. und 1.3. Beispiele B und C). Sie sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Identitätskorrektur des Kindes, stellen aber dennoch nur einen Teil der möglichen und notwendigen Arbeit dar.

Die Erkenntnis, möglichst vielfältige Quellen (vgl. Kap. 2. Auflistung der Quellen) und sowohl Personen, die das Kind kennen, als auch Außenstehende (vgl. Kap. 1. Befunde und Berichte aus eigenen Erhebungen) für die Biografiearbeit zu nutzen, verbindet jedoch von außen kommende „Biografiearbeiter“ mit denen, die in einem System mit den Kindern verbunden sind.

Als Nachteil erlebe ich als Pflegevater bei der Biografiearbeit mit meinen Pflegesöhnen die höhere Subjektivität meiner Deutungen, die bei einer so engen Verflechtung entstehen kann. Deshalb ist der Austausch mit anderen Personen, wie er in der Aktionsforschung regelmäßig erfolgt, wichtig und notwendig.

Abschließend seien einige Empfehlungen gegeben, die mir durch die Auseinandersetzung mit den Themenkomplexen besonders erwähnenswert erscheinen:

  • Kinder, die in ihrer Herkunftsfamilie sichtbar verwahrlost werden, sollten aus diesem Umfeld herausgenommen werden, da die Hilfen innerhalb dieses Systems selten erfolgversprechend sind.
  • Kinder aus verwahrlosenden Verhältnissen werden lebenslang Besonderheiten haben, die es zu akzeptieren gilt. Denn ihre „Abweichungen“ sind ein Ausdruck des „Nicht-Könnens“ nicht des „Nicht-Wollens“.
  • Biografiearbeit sollte dem Kind nur von Erwachsenen angeboten werden, zu dem es Vertrauen hat.
  • Zur Biografiearbeit gehören gründliche Recherchen, um eine hohe Glaubwürdigkeit der Deutungen zu erzielen.
  • Am Reflexionsprozeß in der Biografiearbeit sollten nach Möglichkeit immer mit dem Kind bekannte aber auch außenstehende Personen beteiligt sein, um eine Vielzahl von Deutungen zu ermöglichen.
  • Die Subjektivität des Einzelnen in der Biografiearbeit sollte immer berücksichtigt werden.

E. Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit umfaßt drei große Teilgebiete – die Verwahrlosung, die Biografiearbeit und den Fall - die im einzelnen abgeschlossene Themen darstellen. Ihre Verknüpfung entsteht durch den dritten Teil.

Bei David handelt es sich um ein Kind, welches im Kleinkindalter unter verwahrlosenden Umständen aufwuchs. Durch seinen weiteren Lebensweg ist dieser Teil seiner Biografie größtenteils „verlorengegangen“.

Seitdem David als Pflegekind lebt, bemühen wir uns Stück für Stück, ihm diesen Teil seines Lebens durch Biografiearbeit „zurückzuholen“.

Diese Arbeit hat mir neue bzw. noch nicht entdeckte Wege aufgezeigt, für die Arbeit mit David weitere Erkenntnisquellen über seine Vergangenheit „anzuzapfen". Sie hat mich aber auch zu wesentlichen Erkenntnissen über das Phänomen der Verwahrlosung und über die professionelle Biografiearbeit gebracht.

Einige dieser Erkenntnisse werden im folgenden aufgezählt:

  • Verwahrlosung ist die Folge des Mangels an Fürsorge.
  • Verwahrlosung ist der Ausdruck des Nicht-Könnens und weniger des Nicht-Wollens eines Kindes.
  • Kinder, die in ihrer Herkunftsfamilie verwahrlost werden, sollten aus diesem Umfeld herausgenommen werden, da Hilfen innerhalb dieses Systems selten erfolgversprechend sind.
  • Verwahrlosung führt bei Nichtbeachtung immer zu lebenslangen Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen.
  • Biografiearbeit kann eine Methode sein, um verwahrlosten Kindern bei ihrer Identitätsfindung bzw. –korrektur zu helfen.
  • Biografiearbeit erfordert Zeit und Geduld.
  • Biografiearbeit kann heilen helfen.
  • Menschen, die mit verwahrlosten Kindern arbeiten, benötigen fachliche Unterstützung und kollegialen Austausch.
  • Gründliche Recherchen und die Einbeziehung möglichst vieler, die das Kind kennen, führen zu glaubwürdigen Chroniken und Geschichten.
  • Pflegeeltern müssen in besonderer Weise ihre Subjektivität durch die emotionale Bindung mit dem Kind berücksichtigen.
  • Pflegekinder benötigen in besonders einfühlsamer Weise Zugang zu ihrer Biografie.

Trotz der Komplexität der Verwahrlosung und der mühevollen Biografiearbeit gibt es immer wieder Menschen, die bereit sind, sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen – zum Wohle der Kinder, die ansonsten eine oftmals schon lange sich fortsetzende Kette weiterführen würden.

SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sollten dort, wo sie im Auftrag des Staates zum Wohl von Kindern tätig sind, ihrer Verantwortung gerecht werden und Menschen, die die Betreuung von verwahrlosten Kindern und Jugendlichen übernommen haben, nach Kräften unterstützen.

 

Literaturverzeichnis

Aichhorn, August: Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. 5. Auflage, Verlag Hans Huber, Bern, Stuttgart 1965

Badura, Marion; Battermann, Christian; Eberhard, Kurt; Kohlmetz, Gudrun: Verhaltensmodifikation im Heim mit Behavioral Contracting. Archiv für Wissenschaft und Praxis, Heft 3, Berlin 1978

Beck, C.H.: Bürgerliches Gesetzbuch. 33., neu bearbeitete Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1991

Beck, C.H.: Grundgesetz. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997

Colapinto, John: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. Walter Verlag, Düsseldorf, Zürich 2000

Eberhard, Kurt: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Geschichte und Praxis der konkurrierenden Erkenntniswege. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1999

Eberhard, Gudrun und Kurt: Das Intensivpädagogische Programm (IPP). Ein Aktionsforschungsprojekt für psychisch traumatisierte Kinder und Jugendliche in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. 1.Aufl.,  Schulz–Kirchner Verlag, Idstein 2000

Erikson, H. Erik: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. 7. Auflage, 53.-60. Tausend, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981

Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden 2000

Hartmann, Klaus: Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung. 2.Aufl., Springer–Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 1977

Hartmann, Klaus: Lebenswege nach Heimerziehung. Biographien sozialer Retardierung. 1.Aufl., Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 1996

Heitkamp, Hermann: Grundlagen. Geschichte des Pflegekinderwesens. In Textor, Martin: Familienpflege. Forschung, Vermittlung, Beratung. Lambertus–Verlag, Freiburg im Breisgau 1995

Klosa, Annette; Scholze-Stubenrecht; Werner, Wermke; Matthias: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2.Aufl., Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1997

Ryan, Tony; Walker, Rodger: Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 1997

Schmalohr, Emil: Frühe Mutterentbehrung bei Mensch und Tier. Entwicklungspsychologische Studie zur Psychohygiene der frühen Kindheit.
Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel 1968

 

Anhang:

Verlaufsmuster

Der Entwicklungsverlauf der Beziehung eines Pflegekindes in seinem neuen Umfeld der Pflegefamilie läßt sich nach Nienstedt/Westermann (1995) im wesentlichen in drei Phasen untergliedern. Diese sind:

  • Anpassung und Annahme,
  • Wiederholung früherer Beziehnugsformen in der Übertragungsbeziehung und
  • Entwicklung persönlicher Beziehungen durch regressive Beziehungsformen.

In der ersten Phase herrscht beim Kind die Tendenz vor, sich den „...neuen familialen Lebensbedingungen, den Eltern und ihren Erwartungen scheinbar leicht und konfliktlos...“ anzupassen. NIENSTEDT, M.; WESTERMANN, A., S.51

Deshalb ist es wichtig, diese Anfänge der sozialen Beziehung des Kindes in der Pflegefamilie nicht nur von seiten des Kindes und seiner Anpassung und der elterlichen Erziehung zu betrachten. Denn auch die Untersuchung der möglichen Bedürfnissicherung und Einflußnahme des Kindes auf die sozialen Beziehungen ist von Bedeutung.

„Das Pflegekind ist einer gänzlich neuen, unbekannten Situation ausgesetzt, die sich nicht nur durch die Neuheit der bestehenden Lebensverhältnisse, sondern vor allem durch die Abhängigkeitsbeziehung des Kindes von den Eltern auszeichnet, da nicht das Kind, sondern die Eltern über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen.

Aufgrund dieser Anfangsbedingungen geht das Pflegekind auf die neue Situation mit ausgesprochen gemischten Gefühlen zu; denn es kann noch nicht wissen, wieweit ihm die neuen Lebensbedingungen zu- oder abträglich sein werden.“ ebd. S.52

Das Kind wird also möglicherweise eine Reihe nicht sichtbarer Ängste und Befürchtungen hinter zögerlichem Verhalten zu verbergen suchen, denn es kann noch nicht abschätzen, was der Entschluß, sich in eine Pflegefamilie zu begeben, letztlich für es bedeutet. Es können aber auch ganz konkrete Ängste auftreten, die das Kind mit der neuen Lebenssituation verbindet, so z.B. ob es dort ähnliche negative Erfahrungen (Schlagen, Hungern) machen wird wie in seiner Herkunftsfamilie.

Da Kinder aber scheinbar ein Gespür dafür haben „..., unter welchen Bedingungen ihre Bedürfnisse befriedigt und ihre Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten am ehesten gesichert werden können...“ ebd. S.53, werden sie sich - nach Abwägen ihrer Bedürfnisse und ihrer Ängste - für die Pflegefamilie entscheiden. Denn neben exklusiven Eltern-Kind-Beziehungen, die sich in der Pflegefamilie entwickeln können, sieht das Kind – bewußt oder unbewußt – die Möglichkeit, zu einer erhöhten kontrollierten Einflußnahme auf seine eigenen Lebensperspektiven und seine Umwelt.

Um dem Kind nun diese Einflußnahme in der Pflegefamilie zu ermöglichen ist es notwendig, ihm alltägliche Situationen so klar und durchschaubar wie möglich zu machen, damit es herausfinden kann „..., welche Befriedigungsmöglichkeiten vorhanden sind und welchen Einfluß es selbst auf die sozialen Beziehungen gewinnen kann.“ ebd. S.54

Gelingt es dem Kind nicht, die neue Familiensituation und sein neues Umfeld zu überblicken, kann dies seine Angstbereitschaft erhöhen. Denn ihm fehlen für derartige Situationen die nötigen Handlungskompetenzen oder es verliert die Orientierung und kann sich nun nicht mehr aktiv anpassen. Deshalb muß es diese Defizite ausgleichen, indem es entweder „...nach alten, in anderen Situationen durchaus bewährten Verhaltensklischees...“ greift oder indem es versucht „...die aus dem Anpassungsdefizit resultierenden Konflikte und Rollendiskrepanzen durch Überanpassung zu vermindern oder gänzlich zu vermeiden. ...

...Die Überanpassung des Kindes wird aber oft nicht als eine vorübergehende und für die Entwicklung neuer Beziehungen hinderliche Anpassungsform erkannt, sondern als Hinweis darauf verstanden, daß das Kind gut in die Familie paßt, daß es schon die neuen Pflegeeltern als seine Eltern akzeptiert, daß die Eltern schon die Eltern des Kindes geworden sind.“ ebd. S.55

Wenn das Kind beginnt, behutsam seine Überanpassung aufzugeben, wird es zwangsläufig zu Konflikten kommen, in denen es abtastet, ob die Pflegeeltern diese Auseinandersetzungen als einen Entwicklungsfortschritt  annehmen können. Sie sind ein Ausdruck gewachsener Sicherheit und eine Chance für die Klärung der Beziehung und für die Aufarbeitung früherer Erfahrungen des Kindes. Zweifeln Pflegeeltern in dieser Situation ihre Fähigkeiten oder die Gutwilligkeit des Pflegekindes an oder sinnen nach Maßnahmen, um die Probleme schnell zu beheben, dann wird das Kind in die äußere Anpassung zurückgedrängt. Es erhält nicht die Chance wirklich neue familiale Beziehungen aufzubauen „...,da ihm die neuen Normen und Werte aufgezwungen oder andressiert werden, statt daß das Kind sie aktiv erwirbt aufgrund seines Wunsches, sich mit den Eltern zu identifizieren. Bis dahin braucht man jedoch eine sehr viel längere Perspektive. Bei älteren Kindern muß man in der Regel mit mindestens einem Jahr rechnen, bis man an diesem Punkt angelangt ist.“ ebd. S.56 

Die schwierige Aufgabe, das Kind vor Überanpassung zu bewahren, kann also nur gelingen, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, Einfluß zu haben und die Pflegeeltern zu manipulieren.

Für jedes Kind ist die erste Person, die Befriedigungen und Enttäuschungen enthält, die Mutter. Demzufolge versucht jedes Kind zuerst mit seinen begrenzten Mitteln und Möglichkeiten Einfluß auf die Mutter zu gewinnen. Es erkennt noch keinen Unterschied zwischen den Eigeninteressen und denen seiner Mutter und verfährt nach dem Grundsatz „...,was mir gut ist, ist dir recht, ...

...Indem seine Signale (z.B. Schreien, Lächeln, Anklammern) wahrgenommen, interpretiert und angemessen beantwortet werden, werden erst befriedigende Interaktionsformen möglich, entsteht ein Dialog zwischen Mutter und Kind, der die Voraussetzung für die Entwicklung von Liebesbeziehungen ist." ebd. S.57

Wenn dieser Dialog nun von der Mutter nicht nur als Freude sondern als Gefahr für ihre eigene Autonomie und Unabhängigkeit erlebt wird, kann sie unter Umständen nicht mehr angemessen reagieren, wird es ausschimpfen, schreien lassen, mißhandeln. Somit nimmt sie dem Kind die Möglichkeit, seinen Einfluß geltend zu machen, eine angemessene Frustrationstoleranz zu erwerben und selbst zu erfahren, daß auf seine eigenen Bedürfnisse Rücksicht genommen wird.

Pflegekinder haben häufig eben diese Reaktionen bei ihren leiblichen Müttern erlebt und sind nun, oft Jahre später, darauf angewiesen diesen „versäumten Lernprozeß“ nachzuholen.

„Aus dieser Erkenntnis läßt sich unschwer folgern, daß die Herstellung befriedigender Beziehungen auch dem älteren Kind in der Beziehung zu einer Mutter oder einem Vater, einem Erzieher oder Therapeuten dieser Einfluß zugestanden und dem Kind erlaubt werden muß, einen anderen Menschen zu manipulieren, ihn durch seine Signale zu steuern. ... Dies ist aber nur möglich, wenn Eltern oder Erzieher davon ausgehen, daß das Kind besser als der das Kind erziehende Erwachsene weiß, was es braucht.“ ebd. S.58 

Häufig bedeutet das für Pflegeeltern sich zunächst mit ihren verdrängten Ohnmachtsgefühlen gegenüber Erwachsenen aus der eigenen Kindheit auseinanderzusetzen. Denn die Wünsche und Affekte des Kindes sind unberechenbar und können sich jeden Augenblick verändern. Um in solchen Situationen seine Handlungsautonomie aufgeben zu können „...,weil das Kind die Handlungsziele und Pläne definiert...“ ebd. S.59, müssen sich Pflegeeltern oft bewußt für andere Handlungsmechanismen entscheiden als die in der Kindheit selbst erlebten.

Nur aus dieser kindlichen Einflußnahme kann sich ein Dialog entwickeln, aus dem für das Kind befriedigende Interaktionsformen hervorgehen. Und umgekehrt kann sich dieser Dialog nur entwickeln, wenn sich die Pflegeeltern beeinflussen lassen. So wird dem Kind die Möglichkeit gegeben „...,aufgrund seiner Erfahrungen ein vertrautes Konzept über das Verhalten...“ ebd. S.62 auszubilden und es praktisch zu erproben. Werden die Voraussagen oder Erwartungen des Kindes erfüllt, wird es sich wohl fühlen, Spaß an diesem Dialog entwickeln und diesen wiederholen. Der Einfluß, den das Kind auf die Pflegeeltern gewinnt wird "wie von selbst" seine Wünsche und Bedürfnisse verändern.

„Dabei handelt es sich um zwei Gruppen von Wünschen und Bedürfnissen: einmal die der Lust-Unlust-Regulation dienenden Triebwünsche und andererseits die der Wert-Unwert-Regulation dienenden narzißtischen Wünsche nach Anerkennung und Bestätigung, die schließlich in einer dialogischen Beziehung zu dem Wunsch nach einer ‚erwünschten Interaktion‘ (Sandler 1982, 62) integriert werden.“ ebd. S.63

Dazu ein Beispiel aus meiner Praxis: Dem zeitweiligen Wunsch meiner Pflegesöhne, noch einmal Babys sein zu dürfen, kam ich nach, indem ich Nuckel und Babyflaschen kaufte, die immer zu ihrer Verfügung im Küchenregal lagen. Somit hatten sie die Möglichkeit, ihre „Babylust“ jederzeit selbst zu stillen, indem sie sich diese Dinge nahmen. Dies genügte ihnen aber nur kurze Zeit. Dann forderten sie mich jedesmal auf, sie auf den Schoß zu nehmen. Sie weinten dann babyhaft und ich mußte ihnen das Fläschchen geben, beruhigend auf sie einreden, sie trösten und streicheln. Somit war auch ihr Wunsch nach Bestätigung und Anerkennung gedeckt. Die Abstände, in denen sie nach diesen Utensilien griffen wurden immer größer und heute benutzen sie sie kaum noch.

Diesem durch die Kinder initiierten Dialog lag ganz offensichtlich eine unbefriedigende Säuglings-und Kleinkindphase zugrunde.

„Man wird sich von einem Kind nur dann in einen Dialog verwickeln lassen können, wenn man davon ausgeht, daß das, was das Kind auch immer tut, denkt oder sonstwie zum Ausdruck bringt, nicht unbegründet ist und deshalb als notwendig akzeptiert werden muß – was nicht zwangsläufig bedeutet, daß man es auch gutheißt und billigt.“ ebd. S.65

Für Pflegeeltern ist das eine schwere Aufgabe, die ihnen möglicherweise besser gelingt, wenn sie wissen, daß „...das Kind mit dem was es tut, die Erwartungen, Normen und Werte derjenigen verletzt, an denen ihm etwas gelegen ist. Gerade dann wird es seine guten Gründe dafür haben.“ ebd. S.65

In der zweiten von NIENSTEDT/WESTERMANN (1995) beschriebenen Phase, der Wiederholung früherer Beziehungsformen in der Übertragungsbeziehung, versucht das Pflegekind, die Beziehung zu den Pflegeeltern wie ein therapeutische Situation zu nutzen und zu gestalten.

Dabei ist die Beziehung zu den Pflegeeltern anfangs für das Kind keine neue Beziehung, sondern sozusagen eine „...Neuauflage alter affektiver, emotionaler Beziehungen.“ ebd. S.68 Die Pflegeeltern geraten in eine Rolle, die mit ihnen selbst eigentlich nichts zu tun hat. Diese Rolle anzunehmen ist aber die Bedingung für die Wiederbelebung der früheren Erfahrungen und für deren Korrektur.

„Ob und in welchem Ausmaß gegenwärtige Beziehungen durch prägende Erlebnisse der Vergangenheit zu Übertragungsbeziehungen führen, ist einerseits davon abhängig, wie beängstigend die früheren Erfahrungen waren, ... Andererseits ist die Entwicklung von Übertragungsbeziehungen davon abhängig, wieweit die gegenwärtige Situation für das Kind eine wirklich beschützende ist, so daß sich die gegenwärtige Beziehung als therapeutische entfalten kann.“ ebd. S.68

Das Kind scheint in dieser Situation so beschäftigt mit der Durcharbeitung seiner alten Konflikte und Probleme, daß es zunächst nicht wahrnehmen kann, daß die Pflegeeltern völlig andere Menschen sind, die auch anders, vielleicht beschützend, versorgend, geduldig und freundlich, mit ihm umgehen. Schrittweise muß es die verläßliche Erfahrung machen, daß auf  bestimmte seiner Handlungen nun andere Reaktionen als früher erfolgen. Nur dadurch kann eine neue persönliche Beziehung zu den Pflegeeltern entstehen, die das Kind von der zu früheren Bezugspersonen zu unterscheiden lernt.

„Diese Integrationsphase der noch wirksamen Übertragungsbeziehungen ist im Gesamtprozeß die krisenhafteste, ... Sie [die Übertragungsbeziehungen, der Verf.] wirken fremd, weil sie ja in der Tat nicht der gemeinsamen und kalkulierbaren Geschichte angehören und aus der aktuellen Situation heraus nicht verständlich sind. Sie wirken verwirrend, weil auch die Eltern sich ständig vom Kind mißverstanden fühlen.“ ebd. S.70  

Häufig werden diese in der Pflegefamilie auftretenden Situationen in anderen Zusammenhängen wie z.B. Schule, Kindergarten, Freizeiteinrichtungen  nicht in dieser Weise beobachtet werden können, weil das Kind für die Übertragung wirkliche Elternfiguren benötigt.

Eine möglichst gute Kenntnis der Geschichte des Kindes ist für die Pflegeeltern deshalb von besonderer Bedeutung, damit sie auf die Übertragungsreaktionen angemessener reagieren, diese besser verstehen und distanzierter betrachten können. Je weniger die Pflegeeltern über die Vorgeschichte des Kindes wissen, desto mehr sind sie darauf angewiesen, sich diese aufgrund seiner Verhaltenssignale und Gefühle selbst zu erschließen und zu rekonstruieren.

Dabei helfen insbesondere die Übertragungsbeziehungen.

„Gerade dann, wenn die Eltern das Gefühl haben, daß das Kind sie gänzlich mißversteht, daß es ihre Absichten verkennt, ihnen unrealistische Motive und Handlungen unterstellt, sie immer wieder in einer bestimmten Richtung verzerrt wahrnimmt und ihnen mit Affekten begegnet, die aus der realen Situation heraus nicht verständlich erscheinen, können hieraus Schlüsse auf die Erfahrungen des Kindes und sein daraus resultierendes Selbsterleben in Beziehungen gezogen werden.“ ebd. S.71 f.

Hierzu ein Beispiel aus meiner Praxis: Mein jüngerer Pflegesohn schlief in den ersten Wochen keine Nacht durch. Überall mußte das Licht an sein und die Türen offen stehen. Er bat mich an seinem Bett zu sitzen, bis er eingeschlafen war. Wenn er nachts aufwachte, begann er sofort panisch an zu schreien, wenn er mich nicht mehr an seinem Bett vorfand oder ich gedankenlos oder schlaftrunken irgend eine Tür geschlossen hatte. Er ließ sich dann nur dadurch beruhigen, daß ich mich wieder an sein Bett setzte oder ihm gestattete mit in meinem Bett zu schlafen. Nach einigen Wochen hatte sich sein Nachtschlaf zumindest insoweit stabilisiert, daß er beim Aufwachen nur noch selten weinte, allein in mein Bett kam, sich hinlegte und sofort weiter schlief.

Aus seiner Geschichte wußte ich, daß die Mutter ihn schon als Kleinkind oft über mehrere Stunden allein in der Wohnung zurückgelassen und zeitweise, auch wenn sie anwesend war in einem Zimmer eingeschlossen hatte.

Auch aus den Beziehungs- und Verhaltensstörungen, die sich im Zusammenleben mit den Pflegeeltern zeigen, können Rückschlüsse auf die Vorerfahrungen des Kindes gezogen werden. Vielfach spiegeln sich in ihnen unbewältigte Entwicklungsprobleme aus früheren Entwicklungsphasen wider.

Dazu ein weiteres Beispiel: Lange Zeit war mein älterer Pflegesohn bemüht, jedem Erwachsenen alles recht zu machen. Er versuchte quasi Gedanken zu lesen, um nur nichts falsch zu machen und somit negative Sanktionen zu vermeiden. Das Wort „Ich“ gab es nicht in seinem Sprachgebrauch.

Da ich aus seiner Familiengeschichte nur über sehr mangelhafte Informationen verfügte, schloß ich aus seinem Verhalten, daß er in der Phase der kindlichen Autonomieentwicklung ganz erheblich von Erwachsenen überwältigt worden sein mußte und keinen Raum für seine Ich-Bildung erhalten hatte.

Es war also notwendig, ihm in Situationen, die er schon früher erlebt hatte und die sich nun wiederholten, durch andere als die erlebten Reaktionen zu ermöglichen, sein Verhalten zu korrigieren.

NIENSTEDT/WESTERMANN (1995) sagen dazu: „Das Wiederbeleben von Ängsten, heftigen Wünschen, Enttäuschungen, Ohnmacht, Wut und Zorn in der Übertragungsbeziehung zu elterlichen Objekten in Situationen, in denen sie entstanden sind – z.B. beim Anziehen, Waschen, essen, Ins-Bett-Gehen -,in denen jetzt aber ganz andersartige Ausgänge möglich sind – z.B. befriedigend versorgt zu werden, Rücksicht zu erfahren, nicht überwältigt zu werden, geschützt zu

sein -, ist therapeutisch wirksam und ermöglicht korrigierende Erfahrungen.“ ebd. S.73

Um diese korrigierenden Erfahrungen zu ermöglichen, muß das Kind in seinem neuen Umfeld insbesondere in den Bereichen, in denen es verletzt worden ist,  weitestgehend vor einer Wiederholung früherer Traumata geschützt sein.

Trotz dieses geschützten neuen Lebensraumes, in dem das Kind wirklich befriedigende Erfahrungen machen kann, werden Pflegeeltern es nicht erreichen und sollten sich dies auch nicht zum Ziel setzen, das Kind vor jeglichen Enttäuschungen, Ängsten und Ohnmachtsgefühlen zu bewahren. Die Mobilisierung von Wut und Aggression wird ein Bestandteil des kindlichen Handlungsspektrums bleiben. Aber die korrigierenden Erfahrungen werden eine neue Kanalisierung dieser Gefühle bewirken, denn die Pflegeeltern werden seine Verhaltenssignale einfühlend wahrnehmen, sie interpretieren und dem Kind widerspiegeln.

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