FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2008

 

Die andere Meinung: Gefahren für das Kindswohl
durch missverständliche Arbeitshilfe zum Kinderschutz
in Kindertageseinrichtungen

von Polizeidirektor Rainer Becker

 

Gemäß § 1 (3) des Kinder-  und Jugendhilfegesetzes ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl Anliegen und Aufgabe sowohl von öffentlichen als auch freien Trägern.

Mit dem 2005 neu eingeführten § 8a SGB VIII haben die Jugendämter u. a. durch Vereinbarungen mit freien Trägern sicherzustellen, dass der benannte Schutzauftrag auch von diesen entsprechend wahrgenommen wird.

Auch Kindertagesstätten sind freie Träger der Jugendhilfe, mit denen derartige Vereinbarungen zum Schutz des Kindswohls getroffen werden.

Um den Erzieherinnen und Erziehern angemessene Hilfen im konkreten Fall zu geben, hat z. B. der Paritätische Wohlfahrtsverband zur Umsetzung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) eine Arbeitshilfe zum „Kinderschutz“  in Kindertageseinrichtungen herausgegeben.

In der genannten Arbeitshilfe werden allerdings „denkbare Gefährdungssituationen“ als Regelfälle dargestellt, bei denen (nur) in Ausnahmefällen bei „unmittelbarer und akuter“ Gefährdung für das Kind oder den Jugendlichen, eine sofortige Einbeziehung des Jugendamtes nahe gelegt wird.

Bei so gut wie allen der beschriebenen Regelfälle wäre aus Sicht des Verfassers jedoch eine sofortige vorläufige Schutzmaßnahme gemäß § 42 SGB VIII geboten, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen abzuwehren.

Diese könnte wiederum nur durch das Jugendamt oder in subsidiärer Zuständigkeit als Ingewahrsamnahme durch die Polizei vorgenommen werden.

Das Problem
Die o. g. Arbeitshilfe benennt als denkbare Gefährdungssituationen z. B. in Zusammenhang mit der äußeren Erscheinung des Kindes

  • Massive oder wiederholte Zeichen von Verletzungen ( z. B. Blutergüsse, Striemen, Narben, Knochenbrüche, Verbrennungen) ohne erklärbare unverfängliche Ursache bzw. häufige Krankenhausaufenthalte aufgrund von angeblichen Unfällen.
  • Starke Unterernährung,
     













Foto: Universität Rostock,
Institut für Rechtsmedizin

 

  • „Würgemale und Hämatome“
     









Foto: Universität Rostock,
Institut für Rechtsmedizin

 

  • „Hand- und Fingerabdrücke“

In Zusammenhang mit dem Verhalten

  • Kind wirkt berauscht und/oder benommen bzw. im Steuern seiner Handlungen unkoordiniert (Einfluss von Drogen, Alkohol, Medikamente)
  • Wiederholtes apathisches oder stark verängstigtes Verhalten des Kindes
  • Äußerungen des Kindes, die auf Misshandlungen, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässigung hinweisen

In Zusammenhang mit dem Verhalten der Erziehungspersonen der häuslichen Gemeinschaft

  • Nicht ausreichende oder völlig unzureichende Bereitstellung von Nahrung
  • Massive oder häufige körperliche Gewalt gegenüber dem Kind (z. B. Schütteln, Schlagen, Einsperren)
  • Häufiges massives Beschimpfen, Ängstigen oder Erniedrigen des Kindes
  • Verweigerung der Krankheitsbehandlung…

In Zusammenhang mit der persönlichen Situation der Erziehungspersonen der häuslichen Gemeinschaft

  • Stark verwirrtes Erscheinungsbild (führt Selbstgespräche, reagiert nicht auf Ansprache)
  • Häufig berauscht und/oder benommen bzw. eingeschränkt steuerungsfähige Erscheinung, die auf massiven, verfestigten Drogen-, Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch hindeutet.

In Zusammenhang mit der Wohnsituation

  • Wohnung ist stark vermüllt, völlig verdreckt …
  • Nichtbeseitigung von erheblichen Gefahren im Haushalt (z. B. durch defekte Stromkabel oder Steckdosen…
  • Das Fehlen von eigenem Schlafplatz bzw. von jeglichem Spielzeug des Kindes
     














Foto:
Universität Rostock, Institut
für Rechtsmedizin


„Problematische und grenzwertige Lebenssituationen“


Hiernach wird darüber hinaus - relativierend - ergänzt:

„Bitte beachten Sie dabei:

Der Begriff „gewichtige Anhaltspunkte“ ist, ebenso wie der Begriff der Kindswohlgefährdung, ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff.

Der Gesetzgeber erwartet gleichwohl eine Unterscheidung zu vagen oder „unkonkreten Anhaltspunkten“ zu ersten Eindrücken oder persönlichen Interpretationen einer Beobachtung.

Nicht die – möglicherweise berechtigten - Sorgen um problematische oder grenzwertige Erziehungs- und Lebenssituationen, sondern ausschließlich eine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende schwere Schädigung des Kindes durch sexuelle, körperliche oder seelische Gewalt oder schwere Vernachlässigung löst ein Verfahren nach SGB VIII § 8a aus.“

Hiernach ist als nächster Arbeitsschritt ein Austausch im Team/mit der Leitung vorgesehen, danach das Einschalten einer Kinderschutzfachkraft, mit der dann eine gemeinsame Risikoabschätzung erfolgen soll.

Hervorzuheben ist, dass auch eine Mitarbeiterin/ ein Mitarbeiter des Jugendamtes eine derartige Fachkraft wäre.

Danach ist ein Gespräch mit den Eltern/Sorgeberechtigten vorgesehen, und erst an dieser Stelle findet sich der Hinweis, dass bei Bestehen einer unmittelbaren und akuten Gefährdung für das Kind oder den Jugendlichen bzw. wenn eine solche durch das genannte Gespräch mit den Eltern/Sorgeberechtigten ausgelöst würde, eine sofortige Einbeziehung des Jugendamtes einzuleiten ist.

Bezüglich der genannten Regelbeispiele muss an dieser Stelle allerdings die Frage gestellt werden, was denn darüber hinaus noch geschehen muss, dass z. B. über  Frakturen oder starke Unterernährung hinausgehend eine unmittelbare und akute Gefährdung vorliegt, die die sofortige Einschaltung des Jugendamtes gebietet?

Gefahrenbegriffe und daraus resultierende Handlungspflichten

Gemäß § 3 SOG M-V, der sowohl für die Ordnungsbehörden, zu denen auch die Jugendämter zählen, als auch die Polizei gilt, ist eine gegenwärtige Gefahr eine Sachlage, bei der das … schädigende Ereignis bereits eingetreten ist (Störung) oder unmittelbar oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht (Vgl. u.a. Meixner/Fredrich, HSOG, 10.Aufl. Stuttgart 2005, zu § 1 HSOG, RDN 14, S. 55, Tegtmeier/Vahle, PolG NRW, 9. Aufl., Stuttgart 2004, zu § 8, RDN 12-14, S. 85, Honnacker/Beinhofer, (bay.) PAG, 18. Aufl., Stuttgart 2004, zu Art. 2, S. 22, Knape/Kiworr, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht Berlin, 9. Auflage, Hilden/Rhld. 2006, zu § 17, S. 204,205). Beim misshandelten Kind, aber z. B. auch beim eingesperrten oder hungernden KInd ist das schädigende Ereignis stets bereits eingetreten, so dass von Gesetzes wegen eine gegenwärtige Gefahr für das Kind vorliegt.

Die Gefahr wird darüber hinaus als erheblich definiert, wenn sie einem bedeutsamen Rechtsgut wie Leib, Leben oder Freiheit … droht (Vgl. die o. a. Quellen zu § 3). Auch dies ist in derartigen Fällen zu bejahen, so dass grundsätzlich sofort zu handeln ist, um dem Kind zu helfen.

Aus diesem Grunde ist bei festgestellter so genannter akuter Gefahr zunächst einmal das betroffene Kind in Obhut zu nehmen.

In zurückliegenden oft spektakulären Fällen fällt immer wieder eine besondere Schwachstelle bei der Beurteilung der Gefahrenlage auf:

In Fällen so genannter häuslicher Gewalt, bei der in aller Regel eine erwachsene Frau misshandelt wurde, wird im Rahmen obiger Gefahrendefinition stets und von der Rechtsprechung bestätigt, von einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für das Opfer ausgegangen, so dass die einschreitenden Polizeibeamten in aller Regel sofort eine räumliche Trennung vom Täter in Form einer Wohnungswegweisung vornehmen.

Handelt es sich bei der „Frau“ jedoch um ein Kleinkind, beginnt man in aller Regel, ganz andere Dinge „mit“ zu beurteilen, sei es die Bindung des Kindes an die Mutter, den Wunsch des Gesetzgebers, der Unterstützung der Familie grundsätzlich den Vorrang zu geben, die Probleme eine sofortige Kurzzeitpflege oder Heimunterbringung zu organisieren, die Belastung von Personal und Haushalt usw..

Dies alles hat jedoch nichts mit der Beurteilung der Gefahrenlage zu tun, und mit dem grundsätzlichen Erfordernis, bei Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr zunächst einmal eine sofortige räumliche Trennung des Kindes vom Täter herbeizuführen.

In Fällen, wo es erstmalig zu einem geringen Übergriff gekommen ist, z. B. bei Finger- oder Handspuren nach einem heftigeren „Klaps“ auf den Po, Rötungen an den Oberarmen wegen eines zu starken Festhaltens oder auch bei geringer wiegenden  Hinweisen auf eine Vernachlässigung wie falsch ausgewählte Kleidung im Winter, fehlende Schulbrote o. ä., mag es angehen, das Kind in der Obhut der/des Erziehungsberechtigten zu belassen und den Bedarf einer Hilfe zu erörtern.

In Fällen jedoch, wo es zu Schlägen in das Gesicht gekommen ist, Tritten, Hämatomen, Würgemalen, Frakturen, „Werkzeugspuren“, Verbrennungen, Verbrühungen, Verätzungen, Vergiftungen ist das Kind ist das Kind wegen Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen (Dauer-)Gefahr sofort aus dem Einwirkungsbereich des Täters herauszunehmen, und dies kann nur durch das Jugendamt oder die Polizei erfolgen.

Dies muss nicht obligatorisch längerfristig sein, aber solange nicht nach besten Wissen und Gewissen die Prognose gestellt werden kann, dass dem Kind nach eingeleiteten Hilfsmaßnahmen gefahrlos in seine Familie zurück kann, darf es nicht erneut in Gefahr gebracht werden.

Spätestens, wenn ein Kind zu Schaden gekommen ist und geprüft wird, ob die Gefahrenlage korrekt beurteilt worden ist, wird sich die Justiz ausschließlich am gesetzlich definierten Gefahrenbegriff zu orientieren haben.

Ein Polizeibeamter hätte mit einem Strafverfahren zu rechnen

Ein Polizeivollzugsbeamter, der ein Kind bei den in der Arbeitshilfe beschriebenen Regelbeispielen nicht sofort zu seinem Schutz in Gewahrsam nehmen würde, hätte mit einem Strafverfahren mindestens wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB in Verbindung mit § 13 StGB (Handeln durch Unterlassen) zu rechnen.

Sich im Team und mit der Leitung auszutauschen, eine Kinderschutzfachkraft hinzuzuziehen, das Risiko gemeinsam abzuschätzen und mit den Eltern zu reden, reicht in den beschriebenen Fällen nicht aus.

Hier würde eindeutig zu sorglos – eben fahrlässig – verfahren, weil das Nichteinbeziehen des Jugendamtes für das Kind das Risiko beinhaltet, dass sich die Folgen der Vernachlässigung oder Misshandlung weiter verschlechtern könnten.

Wenn ein Kind verletzt ist und Schmerzen hat, reicht es nicht aus, nur darüber zu reden, mit den Eltern ein Gespräch zu führen und vielleicht auch eine medizinische Behandlung anzuregen und die verantwortliche(n) Behörde(n) zunächst einmal herauszuhalten.

Wer wollte die Verantwortung dafür übernehmen, wenn die – gut gemeinten – Maßnahmen scheitern würden und das Kind im Extremfall zu Tode käme?

Selbst die mit Eingriffbefugnissen ausgestatten Angehörigen von Jugendamt und Polizei hätten bereits Probleme mit dem Risikomanagement in den in den Arbeitshinweisen beschriebenen Fällen, und nun sollen Angestellte von Kindertagesstätten ohne Eingriffsbefugnisse dieses Risiko ohne behördliche Unterstützung auf sich nehmen?

Nur beispielhaft sei an dieser Stelle auf eine Checkliste für Polizeibeamte verwiesen, die auf einer solchen des Landeskriminalamtes 125 Berlin, das als bundesweit einzige Fachdienststelle seit 23 Jahren Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung bearbeitet, beruht.

Natürlich ist auch hier immer der jeweilige Einzelfall individuell zu bewerten.

Die Checkliste macht aber deutlich, was alles aus polizeilicher Sicht als gegenwärtige erhebliche Gefahr für das Kindswohl angesehen wird und wo sofort Eingriffsmaßnahmen geboten sind.

Und sie macht eine drastische Diskrepanz zu den Arbeitshinweisen der Arbeitshilfe zum Kinderschutz in Kindertageseinrichtungen deutlich:
 

Checkliste

Delikte an Schutzbefohlenen / Kindern

§ 171 StGB – Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht


Diese Norm umfasst die körperliche und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahre. Nur Personensorgeberechtigte, insbesondere Erziehungsberechtigte, oder Pflegeeltern können Täter sein.

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Erster Angriff:

Opfer

Erst Opferversorgung, dann Aufnahme der Ermittlungen!

  • Wie ist der Pflege- und Ernährungszustand?
  • Entspricht der Entwicklungsstand dem Alter?
  • Sind gesundheitliche Schäden erkennbar, wie z. B.
    - Wundsein (ggf. Windel entfernen!)?
    - auffällige Hautverschmutzungen (ggf. gesundheitsgefährdend)?
    - Verschmutzungen der Finger- und Fußnägel?
  • Immer auch alle Geschwister betrachten( Abgleich mit Meldeamtsdaten!)
  • bei angeblich ortsabwesenden Geschwisterkindern ist in jedem Fall unverzügliche eine nachträgliche Inaugenscheinnahme vorzunehmen oder zu veranlassen
  • Zweifeln ist so lange nachzugehen, bis diese definitiv ausgeräumt sind
  • Immer den ganzen entkleideten Körper besichtigen (das Risiko einer Traumatisierung berücksichtigen, ggf. einen Arzt hinzuziehen)

Wohnung

  • Sind kindgerechte Nahrungsmittel sowie frische Lebensmittel in der für die Personenzahl entsprechenden Menge vorhanden? Wenn das Argument vorgebracht wird, man wolle gerade einkaufen: Ist entsprechendes Geld vorhanden?
  • Existiert eine funktionsfähige Kochmöglichkeit? Prüfen: techn. Defekte, Strom-/Gasabschaltung.
  • Existiert eine benutzbare Toilette?
  • Sind Hygieneartikel vorhanden, die dem Alter des Kindes entsprechen (z. B. saubere Windeln, funktionsfähige, altersgerechte Zahnbürsten)?
  • Ist saubere Wäsche vorhanden, die dem Alter und der Witterung entspricht?
  • Sind die Wohnräume beheizt (Raumtemperatur)?
  • Besteht ein merklicher Unterschied bei der Raumtemperatur des Kinderzimmers zu den anderen Wohnräumen?
  • Zustand des Bettes/des Kinderwagens des Kindes? Ist es/er trocken? Ist es/er verschmutzt (Grad der Verschmutzung)?
  • Ist altersgerechtes Spielzeug vorhanden?
  • In welchem Zustand befindet sich die Wohnung? Ist sie nur unaufgeräumt
    oder nimmt die Wiederinstandsetzung mehr als 2 Tage in Anspruch? Genaue Beschreibung des Zustandes (Fotos, Videoaufnahmen), z. B. Schimmel- / Ungezieferbefall, starke Verbreitung von Spinngewebe, menschliche/tierische Exkremente u. Ä.
  • Gibt es „versteckte besondere Gelasse“ für Kinder, z. B. „Abseiten“, hinter Schränken pp.?

Täter

Die Gefahr der Schädigung der körperlichen und/oder psychischen Entwicklung, bedingt durch gröbliche Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, begründet die Täterschaft. Der Täter handelt auch durch Unterlassung.

Maßnahmen

Opfer/Tatort

  • Anschaulicher Beweis (Foto, Video) des Zustandes der Wohnung, der Verletzungen und Verschmutzungen des Kindes/Jugendlichen durch
    - Übersichts- und Detailaufnahmen (durch ZKD (nur Rostock) bzw. der KPI-
      Bereitschaft)
  • Beschreibung des Ernährungszustandes des Kindes
  • Fotografieren des Kindes im Antreffzustand. Anschließend Fotografien des Kindes im vollständig entkleideten Zustand ( Traumatisierungsrisiken berücksichtigen, ggf. Arzt hinzuziehen oder im Krankenhaus)
  • Unterbringung des Kindes (Nicht in der Wohnung des Täters belassen!)
    - am Tage: Veranla
    ssung über das Jugendamt
    - in der Nacht Unterbringung im Kindernotdienst
  • Erstbefragung des Kindes. Beachtung: Zeugnisverweigerungsrecht! Kindgerechte Belehrung unbedingt erforderlich (PDV 382 (Bearbeitung von
    Jugendsachen), Ziff. 3.2, beachten!)
  • Grundsätzlich schnellstmögliche Begutachtung durch einen Rechtsmediziner veranlassen, dies kann auch Gefahren abwehrend zum frühstmöglichen Treffen familengerichtlicher Entscheidungen geboten sein

Täter

  • alkoholisierter Zustand?   Blutprobe
    Drogeneinfluss?                 Urinprobe
  • ID-Feststellung, ggf. ED-Behandlung
  • Zeugenermittlung (Mit- und Hausbewohner, Auskunftspersonen); Personalienfeststellung bei Zeugen. Fragen z. B. nach
    - Häufigkeit von vernehmbaren Gewaltattacken bzw. der Abwesenheit der
      personensorgeberechtigten Person(en)
    - wahrnehmbares Täterverhalten
  • sofortige Übergabe des Vorganges an das KK bzw. die KPI, FK 1 (sofern nicht selbst vor Ort)

 

§ 225 StGB – Misshandlung von Schutzbefohlenen

Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahre) bzw. Personen, die aufgrund eines Gebrechens oder einer schweren Krankheit wehrlos sind, sind der Fürsorge und der Obhut eines Betreuers unterstellt. Durch die - nicht nur vorübergehende - Betreuung entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der schutzbedürftigen und der betreuenden Person. Der Täter in diesem Verhältnis ist derjenige, der die schutzbedürftige Person quält, misshandelt, böswillig vernachlässigt, die Personensorge vernachlässigt und an der Gesundheit schädigt.

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Verletzungen/Erkennbarkeit

Erst Opferversorgung, dann Aufnahme der Ermittlungen!

  • Hämatome in unterschiedlichen Ausprägungsformen, Striemen, Narben im Gesicht, an Wangen, im Mundbereich sowie
  • im Brust- und Bauchbereich, am Gesäß, an den Oberschenkeln
  • Mundregion
    - Platzwunden an Lippen,
    - Verbrennungen der Mundschleimhaut und
    - Riss des oberen Lippenbändchens (durch gewaltsame Zuführung von zu
      heißer Nahrung)
  • Verletzungen auf und insbesondere hinter den Ohren durch Reißen und Schläge
  • Verbrennungen an Händen, Fußsohlen, am Bauch und Gesäß durch Pressen an Heizkörper oder auf Herdplatten (Bestrafung für Einnässen/-koten)
  • Verbrühungen (Wichtig: Lage der Verbrühungen beachten, denn Kinder können sich auch ungewollt selbst verletzen)
  • Fesselungsspuren (z. B. durch Fesselung an das Bett)
  • Bissspuren
  • harte Griffmarken an den Armen
  • Stauungsblutung in der Augenbindehaut (durch Würgen)
  • Knochenbrüche
  • Vergiftungen durch Haushaltschemikalien oder Arzneimittel

Maßnahmen des Ersten Angriffs

Opfer

  • Beschreibung der Verletzungen (Kinder immer, Gebrechliche erforderlichenfalls entkleiden. Traumatisierungsrisiken berücksichtigen, ggf. Arzt hinzuziehen)
  • Beschreibung der genauen Lage, der Größe und Form, der Abzeichnung bestimmter Gegenstände (diese, wenn möglich, beschlagnahmen) und die Farbe und Art der Verletzung
  • Fotografische/videografische Sicherung durch ZKD bzw. KPI-Bereitschaftsdienst, siehe oben zu Traumatisierungsrisiken
  • In den Fällen alter oder frischer Verletzungen sofortige ärztliche Konsultation (ggf. im Krankenhaus). Lebensbedrohliche Verletzungen bedürfen selbstverständlich der Notaufnahme im Krankenhaus.
  • Schnellstmögliche Begutachtung durch einen Rechtsmediziner veranlassen, dies kann auch Gefahren abwehrend zum Treffen frühstmöglicher familengerichtlicher Entscheidungen geboten sein
  • Unterbringung des Kindes (siehe oben). Bei Gebrechlichen Benachrichtigung des Bereitschaftsdienstes der Kreisordnungsbehörde oder der OB in kreisfreien Städten zum Zwecke der Einweisung in eine Pflegeheim.
  • Zur Ermittlung der Tatzeit bzw. des Tatzeitraumes
    - Zeugen ermitteln
  • Nachfrage beim Meldeamt, welche Geschwisterkinder mit gemeldet sind
  • - immer alle Geschwisterkinder in jedem Fall körperlich besichtigen ( Traumatisierungsrisiken berücksichtigen, ggf. Arzt hinzuziehen) und
  • kindgerecht belehren
           und informatorisch befragen, Zeugnisverweigerungsrecht beachten!
         - Vernehmung in Frage-Antwort-Form (nicht nach 20:00 Uhr, Nachtzeit!)
         - Beachtung PDV 382, Ziff. 3.2
  • Zweifeln, z. B. bei behaupteter Ortsabwesenheit von (Geschwister-)Kindern ist so lange nachzugehen, bis diese definitiv ausgeräumt sind
  • Spuren am Opfer sind vielfach die einzigen Beweismittel für die Tat. Zeugen finden sich kaum oder schweigen. Daher ist großer Wert auf die Spurensuche zu legen!

Tatort

  • Tatortsicherung und –beschreibung, insbesondere
    - Blut- und Sekretspuren sowohl fotografisch als auch physisch sichern
    - relevante Tatwerkzeuge (Fesseln, Gürtel, Bügeleisen, evtl. Medikamente,
      Haushaltschemikalien) als Beweis- und Vergleichsmittel sicherstellen/be-
      schlagnahmen; Auffindeort und –situation dokumentieren.

Täter

  • erkennungsdienstliche Behandlung (§ 81 b StPO, 2. Alternative)
  • stets Entnahme Blutprobe (zum Beweis der Nüchternheit, des Alkoholisierungsgrades und/oder Rauschmittel-/Arzneimitteleinfluss)
  • Sicherstellung/Beschlagnahme der Pflegeunterlagen

Keinesfalls dürfen misshandelte Kinder/Jugendliche, geistig/körperlich Behinderte oder Gebrechliche im Handlungsbereich des Täters/der Mittäter zurückgelassen werden. Es ist immer eine Unterbringung zu veranlassen!

Hinweis: Misshandlungen und Vernachlässigungen werden vielfach nur aus Anlass eines anderen Einsatzes (z. B. häusliche Gewalt) festgestellt. Bei einer derartigen Feststellung ist umgehend der ZKD bzw. der Bereitschaftsdienst der KPI zum Zwecke der beweissicheren bildlichen Darstellung zu verständigen. Anonyme Mitteilungen und geschützte Adressen sind nicht im Vorgang zu erwähnen, sondern in einem verschlossenen Umschlag dem Vorgang beizufügen.

Eine Kopie der Anzeige sollte dem örtlich zuständigen Familiengericht unverzüglich übermittelt werden, so dass frühstmöglich eine familienrechtliche Entscheidung zu Gunsten des/der Opfer gefällt werden kann.

Vertraulichkeitsaspekten ist hierbei angemessen Rechnung zu tragen!

Redaktion: Rolf Matschinsky/Rainer Becker
FHöVPR
Vorlage: Polizei Berlin, LKA 12

 

Ein gut gemeinter und dennoch gefährlicher Ansatz

Die Absichten der Arbeitshilfe sind zweifellos gut gemeint, und natürlich ist es gewollt und auch richtig, überforderte Eltern zu unterstützen, um damit betroffenen Kindern zu helfen.

Aber grundsätzlich nicht ohne das Jugendamt und auf keinen Fall unter Inkaufnahme von Risiken zu Lasten der betroffenen Kinder.

Es geht um das Kindswohl und nicht um das Elternwohl, und betroffene Kinder dürfen auf keinen Fall dazu benutzt werden, sich den Zugang zu ihren überforderten oder auch in ihrem Verhalten gestörten Eltern/Sorgeberechtigten zu erhalten.

Jedes Restrisiko ist zu vermeiden oder zumindest so gering wie nur möglich zu halten.

Die Risiken, die Mitarbeiter von Kindertageseinrichtungen in den beschriebenen Fällen ohne Information des Jugendamtes, eingingen, wären zu groß und für betroffene Kinder äußerst gefährlich.

Geteilte Verantwortung wäre hier keine halbe Verantwortung, vielmehr würde sie neben der verbesserten Risikobeurteilung gleichzeitig den Schutz für vernachlässigte und misshandelte Kinder erhöhen.

Die in der Arbeitshilfe benannten Verfahrensschritte sind gut und sollten auch weiterhin beachtet werden, allerdings begleitend und ergänzend zu einer Information des verantwortlichen Jugendamtes.

Aus diesem Grunde ist die Regel umzukehren.

Grundsätzlich ist das Jugendamt sofort zu informieren, und eben nur in Ausnahmefällen nicht.

 

 

eine gekürzte Version des Artikels ist veröffentlich in KiTa Impuls (www.wolterskluwer.de)

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