„Problematische und grenzwertige Lebenssituationen“
Hiernach wird darüber hinaus - relativierend - ergänzt:
„Bitte beachten Sie dabei:
Der Begriff „gewichtige Anhaltspunkte“ ist, ebenso wie der Begriff der Kindswohlgefährdung, ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff.
Der Gesetzgeber erwartet gleichwohl eine Unterscheidung zu vagen oder „unkonkreten Anhaltspunkten“ zu ersten Eindrücken oder persönlichen Interpretationen einer Beobachtung.
Nicht die – möglicherweise berechtigten - Sorgen um problematische oder grenzwertige Erziehungs- und Lebenssituationen, sondern ausschließlich eine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende schwere Schädigung des Kindes durch sexuelle, körperliche oder seelische Gewalt oder schwere Vernachlässigung löst ein Verfahren nach SGB VIII § 8a aus.“
Hiernach ist als nächster Arbeitsschritt ein Austausch im Team/mit der Leitung vorgesehen, danach das Einschalten einer Kinderschutzfachkraft, mit der dann eine gemeinsame Risikoabschätzung erfolgen soll.
Hervorzuheben ist, dass auch eine Mitarbeiterin/ ein Mitarbeiter des Jugendamtes eine derartige Fachkraft wäre.
Danach ist ein Gespräch mit den Eltern/Sorgeberechtigten vorgesehen, und erst an dieser Stelle findet sich der Hinweis, dass bei Bestehen einer unmittelbaren und akuten Gefährdung für das Kind oder den Jugendlichen bzw. wenn eine solche durch das genannte Gespräch mit den Eltern/Sorgeberechtigten ausgelöst würde, eine sofortige Einbeziehung des Jugendamtes einzuleiten ist.
Bezüglich der genannten Regelbeispiele muss an dieser Stelle allerdings die Frage gestellt werden, was denn darüber hinaus noch geschehen muss, dass z. B. über Frakturen oder starke Unterernährung hinausgehend eine unmittelbare und akute Gefährdung vorliegt, die die sofortige Einschaltung des Jugendamtes gebietet?
Gefahrenbegriffe und daraus resultierende Handlungspflichten
Gemäß § 3 SOG M-V, der sowohl für die Ordnungsbehörden, zu denen auch die Jugendämter zählen, als auch die Polizei gilt, ist eine gegenwärtige Gefahr eine Sachlage, bei der das … schädigende Ereignis bereits eingetreten ist (Störung) oder unmittelbar oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht (Vgl. u.a. Meixner/Fredrich, HSOG, 10.Aufl. Stuttgart 2005, zu § 1 HSOG, RDN 14, S. 55, Tegtmeier/Vahle, PolG NRW, 9. Aufl., Stuttgart 2004, zu § 8, RDN 12-14, S. 85, Honnacker/Beinhofer, (bay.) PAG, 18. Aufl., Stuttgart 2004, zu Art. 2, S. 22, Knape/Kiworr, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht Berlin, 9. Auflage, Hilden/Rhld. 2006, zu § 17, S. 204,205). Beim misshandelten Kind, aber z. B. auch beim eingesperrten oder hungernden KInd ist das schädigende Ereignis stets bereits eingetreten, so dass von Gesetzes wegen eine gegenwärtige Gefahr für das Kind vorliegt.
Die Gefahr wird darüber hinaus als erheblich definiert, wenn sie einem bedeutsamen Rechtsgut wie Leib, Leben oder Freiheit … droht (Vgl. die o. a. Quellen zu § 3). Auch dies ist in derartigen Fällen zu bejahen, so dass grundsätzlich sofort zu handeln ist, um dem Kind zu helfen.
Aus diesem Grunde ist bei festgestellter so genannter akuter Gefahr zunächst einmal das betroffene Kind in Obhut zu nehmen.
In zurückliegenden oft spektakulären Fällen fällt immer wieder eine besondere Schwachstelle bei der Beurteilung der Gefahrenlage auf:
In Fällen so genannter häuslicher Gewalt, bei der in aller Regel eine erwachsene Frau misshandelt wurde, wird im Rahmen obiger Gefahrendefinition stets und von der Rechtsprechung bestätigt, von einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für das Opfer ausgegangen, so dass die einschreitenden Polizeibeamten in aller Regel sofort eine räumliche Trennung vom Täter in Form einer Wohnungswegweisung vornehmen.
Handelt es sich bei der „Frau“ jedoch um ein Kleinkind, beginnt man in aller Regel, ganz andere Dinge „mit“ zu beurteilen, sei es die Bindung des Kindes an die Mutter, den Wunsch des Gesetzgebers, der Unterstützung der Familie grundsätzlich den Vorrang zu geben, die Probleme eine sofortige Kurzzeitpflege oder Heimunterbringung zu organisieren, die Belastung von Personal und Haushalt usw..
Dies alles hat jedoch nichts mit der Beurteilung der Gefahrenlage zu tun, und mit dem grundsätzlichen Erfordernis, bei Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr zunächst einmal eine sofortige räumliche Trennung des Kindes vom Täter herbeizuführen.
In Fällen, wo es erstmalig zu einem geringen Übergriff gekommen ist, z. B. bei Finger- oder Handspuren nach einem heftigeren „Klaps“ auf den Po, Rötungen an den Oberarmen wegen eines zu starken Festhaltens oder auch bei geringer wiegenden Hinweisen auf eine Vernachlässigung wie falsch ausgewählte Kleidung im Winter, fehlende Schulbrote o. ä., mag es angehen, das Kind in der Obhut der/des Erziehungsberechtigten zu belassen und den Bedarf einer Hilfe zu erörtern.
In Fällen jedoch, wo es zu Schlägen in das Gesicht gekommen ist, Tritten, Hämatomen, Würgemalen, Frakturen, „Werkzeugspuren“, Verbrennungen, Verbrühungen, Verätzungen, Vergiftungen ist das Kind ist das Kind wegen Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen (Dauer-)Gefahr sofort aus dem Einwirkungsbereich des Täters herauszunehmen, und dies kann nur durch das Jugendamt oder die Polizei erfolgen.
Dies muss nicht obligatorisch längerfristig sein, aber solange nicht nach besten Wissen und Gewissen die Prognose gestellt werden kann, dass dem Kind nach eingeleiteten Hilfsmaßnahmen gefahrlos in seine Familie zurück kann, darf es nicht erneut in Gefahr gebracht werden.
Spätestens, wenn ein Kind zu Schaden gekommen ist und geprüft wird, ob die Gefahrenlage korrekt beurteilt worden ist, wird sich die Justiz ausschließlich am gesetzlich definierten Gefahrenbegriff zu orientieren haben.
Ein Polizeibeamter hätte mit einem Strafverfahren zu rechnen
Ein Polizeivollzugsbeamter, der ein Kind bei den in der Arbeitshilfe beschriebenen Regelbeispielen nicht sofort zu seinem Schutz in Gewahrsam nehmen würde, hätte mit einem Strafverfahren mindestens wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB in Verbindung mit § 13 StGB (Handeln durch Unterlassen) zu rechnen.
Sich im Team und mit der Leitung auszutauschen, eine Kinderschutzfachkraft hinzuzuziehen, das Risiko gemeinsam abzuschätzen und mit den Eltern zu reden, reicht in den beschriebenen Fällen nicht aus.
Hier würde eindeutig zu sorglos – eben fahrlässig – verfahren, weil das Nichteinbeziehen des Jugendamtes für das Kind das Risiko beinhaltet, dass sich die Folgen der Vernachlässigung oder Misshandlung weiter verschlechtern könnten.
Wenn ein Kind verletzt ist und Schmerzen hat, reicht es nicht aus, nur darüber zu reden, mit den Eltern ein Gespräch zu führen und vielleicht auch eine medizinische Behandlung anzuregen und die verantwortliche(n) Behörde(n) zunächst einmal herauszuhalten.
Wer wollte die Verantwortung dafür übernehmen, wenn die – gut gemeinten – Maßnahmen scheitern würden und das Kind im Extremfall zu Tode käme?
Selbst die mit Eingriffbefugnissen ausgestatten Angehörigen von Jugendamt und Polizei hätten bereits Probleme mit dem Risikomanagement in den in den Arbeitshinweisen beschriebenen Fällen, und nun sollen Angestellte von Kindertagesstätten ohne Eingriffsbefugnisse dieses Risiko ohne behördliche Unterstützung auf sich nehmen?
Nur beispielhaft sei an dieser Stelle auf eine Checkliste für Polizeibeamte verwiesen, die auf einer solchen des Landeskriminalamtes 125 Berlin, das als bundesweit einzige Fachdienststelle seit 23 Jahren Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung bearbeitet, beruht.
Natürlich ist auch hier immer der jeweilige Einzelfall individuell zu bewerten.
Die Checkliste macht aber deutlich, was alles aus polizeilicher Sicht als gegenwärtige erhebliche Gefahr für das Kindswohl angesehen wird und wo sofort Eingriffsmaßnahmen geboten sind.
Und sie macht eine drastische Diskrepanz zu den Arbeitshinweisen der Arbeitshilfe zum Kinderschutz in Kindertageseinrichtungen deutlich:
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