FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Veröffentlichungen / sozialppädagogische Fabeln

 

Der Wolfsjunge


In Sibirien,dort wo es noch große Wälder ohne Häuser und Straßen gibt und wo die meisten Tiere noch nie einen Menschen gesehen haben, lebte an einem breiten Fluß ein Rudel grauer Wölfe. Eines Tages, als die jungen Wölfe wie gewöhnlich am Flußufer spielten, rief einer plötzlich: “Schaut mal, dort treibt ein toter Wolf heran!“ Alle sprangen in das Wasser, packten das kleine Tier und holten es an das Ufer. Da merkten sie, daß es noch lebte. Sie trugen es an eine sonnige Stelle, leckten sein Fell und riefen immer wieder: “Wach auf, kleiner Wolfsjunge, wach auf!“ Endlich öffnete der kleine Wolf die Augen und wedelte einmal kurz mit der Schwanzspitze; dann schloß er die Augen und schlief tief ein. Sie brachten ihn zu den Erwachsenen. er war so abgemagert, daß man seine Knochen durch das zerzauste Fell sehen konnte. Eine dicke Wölfin, die kurz zuvor sechs Junge geboren hatte, nahm ihn an ihr pralles Euter. Er fing sofort an zu saugen und trank und trank, ohne dabei aufzuwachen. Danach schlief er noch den restlichen Tag und die ganze folgende Nacht.

Am nächsten Morgen standen die Wolfskinder ungeduldig um ihn herum und warteten, daß er aufwachte. Als er die Augen aufschlug, stürzten sie jubelnd auf ihn zu, um ihn zu liebkosen. Er aber sprang zurück, knurrte giftig und fletschte die Zähne. Er sah mit seinem gesträubten Fell und den angelegten Ohren richtig gefährlich aus. Die Wolfskinder erstarrten vor Schreck. Diedicke Wölfin hatte alles mit angesehen.

 

„Kleiner Wolf, was ist los mit dir ? Die Kinder haben dich gerettet und du knurrst sie an ?“

„Ich wurde schon einmal gerettet, genutzt hat es mir wenig“, entgegnete der Wolfsjunge.

„Komm, erzähl uns die Geschichte deines Lebens!“ ermunterte ihn die dicke Wölfin.

„Oh, ja,“ riefen die Kinder durcheinander, “bitte erzähl uns alles von Anfang an!“

Der Wolfsjunge wehrte ab:“Was geht euch meine Lebensgeschichte an ?“

„Wir wollen wissen, wer du bist“, drängten die Kinder.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, begann der kleine Wolf schließlich. “Einige Wochen nach meiner Geburt starb unsere Mutter. Meine Geschwister verhungerten. Ich lief weg. Immer geradeaus, bis an das Ende des Waldes. Dort standen Häuser, in denen Menschen wohnten. Die ganze Gegend roch danach - eklig und köstlich zugleich. Weil ich großen Hunger hatte, schlich ich mich näher heran und fing mir einen von den fetten Vögeln, die für die Menschen Eier legen. Die anderen Vögel machten gleich einen fürchterlichen Lärm, so daß die Menschen aus ihren Häusern herausgelaufen kamen und mit Steinen nach mir warfen. Einer traf mich am Kopf und ich verlor die Besinnung. Als ich wieder aufwachte, hatte ich einen dicken Strick um den Hals und konnte nicht mehr weg.“

Nun konnten die Wolfskinder nicht mehr an sich halten:

“Was, du warst in menschlicher Gefangenschaft?“ fragten sie entsetzt.

„Ja“, berichtete der Wolfsjunge weiter, “ich sollte immer bellen, wenn fremde Menschen oder Tiere sich dem Haus nähern. Menschen haben viel Angst, weil sie schlecht hören, kaum riechen und nachts auch nicht sehen können. Statt aufzupassen heulte ich jede Nacht. Sie haben mich deshalb erst viel gestreichelt und dann viel geschlagen.Aber es wurde nicht besser. Wenn sie mich schlugen, biß ich ihnen in die Beine. Natürlich schlugen sie mich dann noch schlimmer. Das machte mir aber bald nichts mehr aus. Endlich gelang es mir, den Strick durchzubeißen und in den Wald zurückzukehren. Ich war nun wieder frei, aber auch wieder hungrig. Es war kalter Winter. Ich fand nichts zu fressen und wollte nicht mehr leben. Deshalb legte ich mich in eine Baumhöhle und versuchte zu sterben. Dort wurde ich von einem alten einsamen Wolf gefunden. Der bot mir an, mit ihm zusammen auf Jagd zu gehen. „Jung und Alt müssen zusammenhalten!“ meinte er. Eines Tages fingen wir gemeinsam einen kranken Hasen. Er erklärte, er habe einen größeren Magen und fraß ihn allein. Am nächsten Tag fand ich eine tote Krähe und schlang sie so schnell hinunter, daß der alte Wolf nicht herankam. Da biß er mich, daß ich blutete und jagte mich in den Fluß, aus dem ihr mich gestern herausgeholt habt. So, nun kennt ihr meine Geschichte, laßt mich jetzt endlich in Ruhe !“ Die Wolfskinder waren ganz still geworden und zogen sich ohne weitere Fragen zurück.

In den folgenden Tagen und Wochen versuchten sie, den kleinen Wolf zum Spielen zu gewinnen, aber der machte nur mit, wenn es etwas zu raufen und zu kämpfen gab. Schließlich gaben sie es auf und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Der kleine Wolf aber wurde immer schwieriger und immer dreister. Er biß kleinere und schwächere Wolfskinder, stahl ihnen ihre Lieblingsknochen und ließ sich auch von den erwachsenen Wölfen nichts sagen. Versuchten sie es mit Freundlichkeit, hörte er erst gar nicht hin. Versuchten sie es mit Strenge, lachte er sie aus. Sogar wenn der große Leitwolf ihn zur Strafe kräftig biß, schien ihm das mehr Freude als Schmerz zu bereiten. Kurzum - er war für alle eine lästige Plage geworden. Schließlich wußten sich die Erwachsenen keinen Rat mehr und beschlossen, den kleinen Wolf in den Wald hinauszuschicken, wenn er sich nicht bald ändern würde.

„Da gehe ich schon lieber freiwillig“, höhnte der Wolfsjunge trotzig und verschwand im Dunkel des Waldes.

Zuerst waren die Kinder froh ihn los zu sein. Aber bald fehlte er ihnen. Sie erinnerten sich daran, daß man mit ihm besonders spannende Abenteuerspiele spielen konnte. Heimlich schlichen sie sich in den Wald, um den kleinen Wolf zu suchen. Da dieser sich immer in der Nähe des Rudels gehalten hatte, fanden sie bald seine Fährte und kurz darauf ihn selbst.

„Komm zurück, kleiner Wolf, du gehörst zu uns!“

„Nein“, sprach der Wolfsjunge, “ich bin anders als ihr, ich störe euch nur und erst recht eure Eltern. Ihr habt euch alle lieb, davon verstehe ich nichts.“

„Ach was“, widersprach eine kleine Wölfin. “Ich weiß etwas, dafür brauchen wir dich. Im letzten Herbst wurde unsere kleine Schwester von einem Jäger eingefangen. Ich nehme an, daß sie, so wie es dir ergangen ist, von ihm festgehalten wird. Komm, wir wollen sie gemeinsam befreien!“

„Ja“, riefen die anderen,“ du kennst dich besser aus, du mußt uns helfen !“

Das war ein Abenteuer nach seinem Herzen. Sie machten sich sofort auf den Weg. Es war nicht leicht das Haus des Jägers zu finden, aber die Eule half ihnen. Nach drei Tagen erblickten sie das Haus vor sich auf einer Waldlichtung. Vor einer Hundehütte, an einen Lederriemen gefesselt, sahen sie das gefangene Wolfsmädchen. Sie hatte ihre Geschwister schon wahrgenommen und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Der Jäger war gerade damit beschäftigt sein Gewehr zu reinigen. Neben ihm lag schnarchend ein unheimliches Tier, einem Wolf ähnlich, aber viel größer, ganz schwarz und furchtbar häßlich.

„Das ist eine Dogge“, erläuterte der Wolfsjunge, “Doggen sind riesengroß, viel stärker als der stärkste Wolf. Sie tun alles, was die Menschen von ihnen verlangen. Sie töten sogar auf Befehl.“

Die kleinen Wölfe zitterten vor Angst.“Was sollen wir nur tun ?“

„Paßt auf!“ erklärte der Wolfsjunge. „Ihr bellt aus Leibeskräften. Der Jäger wird dann mit seinem Gewehr zu euch laufen und auf euch schießen. Ihr dürft ihn nicht zu nahe an euch herankommen lassen, dann kann er euch mit seiner Schrotflinte nicht ernsthaft verletzen.

„Und du?“

„Ich schleiche mich von hinten an eure Schwester heran und befreie sie.“

„Das ist zu gefährlich, die Dogge wird über dich herfallen und dich zerreißen!“

„Ich habe keine Furcht“, flüsterte der kleine Wolf und war schon verschwunden.

Wie verabredet ließen die kleinen Wölfe ein lautes Gebell ertönen. Der Jäger lief mit seinem Gewehr zum Wald und schoß hinein, aber die Wolfskinder waren rechtzeitig ausgewichen. Der kleine Wolf hatte sich unterdessen bis zur Hundehütte geschlichen und versuchte den Lederriemen durchzubeißen. Der Jäger sah es von weitem und hetzte die schwarze Dogge auf ihn. Aber der Wolfsjunge ließ nicht nach , bis er den Riemen durchgebissen hatte. In diesem Moment war die Dogge heran, schlug ihre Zähne in den Nacken des gerade befreiten Wolfsmädchens und wollte sie in das Haus des Jägers zerren. Der kleine Wolf aber sprang herzu und biß der Dogge mit aller Kraft in die Hinterbeine. Dadurch verwirrt, ließ das Untier sein Opfer fallen und stürzte sich auf den hinterhältigen Peiniger. Der war aber schon zur Seite gesprungen und die Dogge stieß ins Leere.

Die beiden kleinen Wölfe rasten so schnell sie konnten in den Wald. Ehe sich die Dogge besonnen hatte, waren sie schon im Dickicht verschwunden. Bald erreichten sie die anderen Wolfskinder. Das war ein Freudenfest! Sie tanzten stundenlang herum und trabten erst nach Sonnenuntergang zu ihren Eltern nach Hause. Die hatten sich große Sorgen gemacht und wollten heftig schimpfen. Aber als sie ihr befreites Kind sahen, waren sie viel zu glücklich um böse zu sein. Außerdem mußten sie zugeben, daß sie das befreiende Abenteuer verboten hätten, wenn sie vorher gefragt worden wären.

Natürlich war der Wolfsjunge der Held des Tages. Alle waren stolz auf ihn, besonders er selbst. Seit diesem Tag fühlte er sich in dem Rudel richtig zuhause. Weil er es nicht wieder verlieren wollte, versuchte er möglichst freundlich zu sein. Wenn ihm das mißlang -- und es mißlang ihm häufig -- lachten die anderen nur und sagten:

„Jetzt kocht in ihm wieder seine alte Wut, aber laßt nur, sogar die Wut ist manchmal gut zu gebrauchen.“

aus „Fabeln statt Pillen“ von Kurt Eberhard und Istrid Hohmeyer

 

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